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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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das Leben zweifellos realistischer sah als ich, schien sich vor der Urne zu fürchten, denn sie hielt sie auf dem ganzen Heimweg auf Armeslänge von sich gestreckt, als enthielte sie gefährliches radioaktives Material. Wir waren uns einig, daß wir unsere Fahrt mit der Fähre am nächsten Tag machen wollten, egal bei welchem Wetter. Das war nun zufällig Mrs. Humes Besuchstag im V. A. Hospital, und da sie nicht auf ihren Bruder verzichten wollte, beschloß sie, daß er uns begleiten sollte. Als sie das sagte, fiel ihr ein, daß vielleicht auch Kitty mitkommen könnte. Mir schien das nicht nötig, doch als ich Kitty davon erzählte, sagte sie, sie wolle mitgehen. Es sei ein bedeutsames Ereignis, sagte sie, und sie habe Mrs. Hume viel zu gern, um ihr diese moralische Unterstützung nicht angedeihen zu lassen. So kam es, daß wir nicht zu zweit, sondern zu viert die Reise antraten. Ich bezweifle, daß New York jemals eine so bunt gemischte Schar von Bestattern gesehen hat.
    Früh am nächsten Morgen also ging Mrs. Hume ihren Bruder aus dem Krankenhaus abholen. Wenig später traf Kitty in der Wohnung ein; sie trug einen äußerst knappen blauen Minirock, und die Schuhe mit den hohen Absätzen, die sie für diesen Anlaß angezogen hatte, ließen ihre glatten kupferfarbenen Beine noch prächtiger erscheinen. Ich erklärte ihr, daß Mrs. Humes Bruder nicht ganz richtig im Kopf sei, doch da ich selbst ihn nie kennengelernt hatte, wußte ich nicht so recht, was das bedeutete. Charlie Bacon erwies sich als ein großer Mann von Anfang Fünfzig mit rundem Gesicht, schütterem rötlichem Haar und wachsam hin und her flitzendem Blick. Er erschien mit seiner Schwester in einem etwas unruhigen, überschwenglichen Zustand (es war das erste Mal seit über einem Jahr, daß er das Krankenhaus verlassen hatte), und in den ersten Minuten lächelte er eigentlich nur und schüttelte uns die Hand. Er trug eine blaue, bis zum Hals zugezogene Windjacke, eine frisch gebügelte Khakihose, glänzende schwarze Schuhe und weiße Socken. In seiner Jackentasche, aus der sich ein Kopfhörerkabel nach oben wand, hatte er ein kleines Transistorradio. Er nahm den Knopf nie aus dem Ohr, und alle paar Minuten steckte er die Hand in die Tasche, um einen anderen Sender einzustellen. Dabei schloß er jedesmal konzentriert die Augen, als lausche er Botschaften aus einer anderen Galaxis. Als ich ihn fragte, welcher Sender ihm am besten gefalle, sagte er mir, die seien alle gleich. «Ich höre Radio nicht zum Spaß», sagte er. «Das ist meine Arbeit. Wenn ich sie richtig mache, kann ich herausfinden, was mit den großen Krachern unter der Stadt vor sich geht.»
    «Große Kracher?»
    «Wasserstoffbomben. Sie haben ein Dutzend davon in unterirdischen Tunneln gelagert, und die werden ständig hin und her bewegt, damit die Russen nicht wissen, wo sie sind. Es gibt bestimmt hundert verschiedene Abschußbasen - ganz tief unter der Stadt, noch unter der U-Bahn.»
    «Und was hat das Radio damit zu tun?»
    «Da werden die Informationen codiert durchgegeben. Wenn auf einem Sender eine Livesendung läuft, heißt das, daß die Kracher verlagert werden. Baseball-Übertragungen eignen sich dafür am besten. Wenn die Mets fünf zu zwei gewinnen, bedeutet das, daß die Kracher auf Position zweiundfünfzig gebracht werden. Verlieren sie sechs zu eins, bedeutet das Position sechzehn. Es ist wirklich ganz einfach, wenn man einmal auf den Trichter gekommen ist.»
    «Und was ist mit den Yankees?»
    «Wichtig ist immer nur das Ergebnis der Mannschaft, die ein Heimspiel hat. Die beiden spielen nie am selben Tag in der Stadt. Wenn die Mets in New York spielen, spielen die Yankees auswärts, und umgekehrt.»
    «Aber was haben wir davon, wenn wir wissen, wo sich die Bomben befinden?»
    «Wir können uns schützen. Ich weiß nicht, wie das mit Ihnen ist, aber mich macht die Vorstellung, in die Luft gesprengt zu werden, nicht allzu glücklich. Irgendwer muß doch auf dem laufenden bleiben, was sich da abspielt, und wenn sonst keiner dazu bereit ist, muß ich es wohl tun.»
    Während ich so mit ihrem Bruder redete, zog Mrs. Hume sich um. Als sie fertig war, verließen wir die Wohnung und nahmen ein Taxi zum Fährhafen am Südende Manhattans. Es war ein schöner Tag, mit klarem blauem Himmel und einem frischen Wind. Ich weiß noch, wie wir im Taxi den West Side Highway hinunterkutschierten und ich mit der Urne auf dem Schoß auf dem Rücksitz saß und Charlie zuhörte, der von Effing

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