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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Nacht freinehmen sollte. «Wir können jetzt nichts für ihn tun», sagte sie. «Sie sind seit heute morgen bei ihm hier drin und sollten mal ein bißchen an die Luft kommen. Wenn er die Nacht übersteht, sind Sie morgen wenigstens wieder frisch.»
    «Ein Morgen wird es wohl nicht geben», sagte ich.
    «Mag sein. Aber das haben wir gestern auch schon gesagt, und es ist immer noch nicht zu Ende mit ihm.»
    Ich ging mit Kitty im Moon Palace essen, und danach sahen wir uns einen der Filme einer Doppelvorstellung im Thalia an (ich glaube, es war Asche und Diamant, kann mich aber irren). Normalerweise hätte ich Kitty nun zu ihrem Wohnheim begleitet, aber ich hatte ein schlechtes Gefühl wegen Effing, und deshalb gingen wir nach dem Film die West End Avenue hinunter, um bei Mrs. Hume in der Wohnung vorbeizuschauen. Es war kurz vor ein Uhr morgens, als wir dort ankamen. Rita öffnete uns tränenüberströmt die Tür, und sie brauchte mir kein Wort zu sagen: Ich wußte auch so, was passiert war. Wie sich herausstellte, war Effing knapp eine Stunde vor unserer Ankunft gestorben. Als ich die Krankenschwester nach dem genauen Zeitpunkt fragte, gab sie die Auskunft: null Uhr zwei, zwei Minuten nach Mitternacht. Also hatte Effing es doch noch bis zum Zwölften geschafft. Es schien so grotesk, daß ich nicht wußte, wie ich reagieren sollte. In meinem Kopf prickelte es seltsam, und plötzlich hatte ich das Gefühl, die Leitungen in meinem Gehirn seien kurzgeschlossen. Da ich glaubte, gleich in Tränen ausbrechen zu müssen, verzog ich mich in eine Ecke des Zimmers und hielt mir die Hände vors Gesicht. So stand ich da und wartete, aber die Tränen kamen nicht. Ein paar weitere Augenblicke vergingen, und dann drangen krampfhaft eigenartige Töne aus meiner Kehle. Und erst ein wenig später merkte ich, daß ich lachte.
    Effing hatte angeordnet, daß seine Leiche eingeäschert werden sollte. Trauergottesdienst und Bestattung hatte er sich verbeten, insbesondere hatte er verlangt, daß kein Vertreter welcher Religion auch immer an der Beseitigung seiner Überreste teilnehmen durfte. Die Zeremonie sollte äußerst schlicht sein: Mrs. Hume und ich sollten in Manhattan an Bord der Staten-Island-Fähre gehen und seine Asche auf halbem Weg (mit Blick auf die Freiheitsstatue zu unserer Rechten) ins Wasser des New Yorker Hafens streuen.
    Ich versuchte, Solomon Barber telefonisch in Northfield, Minnesota, zu erreichen, um ihm Gelegenheit zu geben, daran teilzunehmen; nach mehreren Anrufen in seinem Haus, wo niemand abnahm, wandte ich mich an den Fachbereich für Geschichte des Magnus College und erhielt die Auskunft, daß Mr. Barber für dieses Frühjahrssemester beurlaubt sei. Weitere Informationen schien die Sekretärin mir nicht geben zu wollen, doch nachdem ich ihr den Zweck meines Anrufs erklärt hatte, gab sie ein wenig nach und fügte hinzu, der Professor befinde sich auf einer Forschungsreise in England. Wie ich dort mit ihm Kontakt aufnehmen könne, fragte ich. Das sei schwierig, sagte sie, da er keine Adresse hinterlassen habe. Und was geschehe mit seiner Post, fragte ich weiter, die müsse ihm doch irgendwohin nachgeschickt werden. Nein, sagte sie, dazu habe sie keine Anweisung. Die Post solle bis zu seiner Rückkehr aufbewahrt werden. Und wann sei damit zu rechnen? Nicht vor August, sagte sie und entschuldigte sich, mir nicht weiterhelfen zu können; und ihre Stimme klang so, daß ich ihr glaubte. Später an diesem Tag setzte ich mich hin und schrieb Barber einen langen Brief, in dem ich ihm die Situation so gut ich konnte auseinandersetzte. Es war ein schwieriger Brief, an dem ich zwei bis drei Stunden zu arbeiten hatte. Als ich fertig war, tippte ich ihn ab, legte ihn dem Päckchen mit der revidierten Abschrift von Effings Autobiographie bei und schickte das Ganze ab. Soweit ich es absehen konnte, hatte ich damit meine Pflicht in dieser Angelegenheit erfüllt. Ich hatte getan, worum Effing mich gebeten hatte, und von nun an läge die Angelegenheit in den Händen der Anwälte, die zu gegebener Zeit mit Barber Verbindung aufnehmen würden.
    Zwei Tage später holten Mrs. Hume und ich die Asche aus der Leichenhalle ab. Sie war in eine graue Metallurne gefüllt worden, die nicht größer als ein Brotlaib war, und ich hatte Schwierigkeiten mit der Vorstellung, daß Effing sich wirklich darin befinden sollte. So viel von ihm war in Rauch aufgegangen - da war es ein seltsamer Gedanke, daß noch etwas übriggeblieben war. Mrs. Hume, die

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