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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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sein Zustand sich im weiteren Verlauf der Woche wieder stabilisierte, war ich dem Kalender noch immer voraus, und während der nächsten zwei Tage blieb mir keine Wahl, als ihm immer wieder zu versichern, wir hätten den Neunten. Ich glaube, das war das mindeste, was ich für ihn tun konnte - ihm die Befriedigung verschaffen, daß er die Prüfung seines Willens bestanden habe. Ganz gleich, wie es kommen sollte, ich wollte dafür sorgen, daß sein Leben am Zwölften endete.
    Er sagte, der Klang meiner Stimme beruhige ihn, und selbst als er so schwach geworden war, daß er nicht mehr sprechen konnte, wollte er, daß ich weiterredete. Was ich sagte, interessierte ihn nicht, Hauptsache, er hörte meine Stimme und wußte, daß ich bei ihm war. So schwatzte ich so gut ich konnte vor mich hin, wechselte je nach Laune von einem Thema zum anderen. Es war nicht immer einfach, diesen Monolog in Gang zu halten, und wenn mir gelegentlich die Ideen ausgingen, griff ich, um wieder in Schwung zu kommen, auf einige Tricks zurück. Dann gab ich die Plots von Romanen und Filmen wieder, rezitierte Gedichte aus dem Gedächtnis - besonders gern hatte Effing Sir Thomas Wyatt und Fulke Greville - oder sprach über irgendwelche Meldungen aus der Morgenzeitung.
    Seltsamerweise kann ich mich an einige dieser Berichte noch heute recht gut erinnern, und wann immer ich daran denke (das Übergreifen des Krieges auf Kambodscha, die Morde an der Kent State University), sehe ich mich bei Effing in diesem Zimmer sitzen, sehe ihn da vor mir im Bett liegen. Ich sehe seinen zahnlos klaffenden Mund; ich höre seine verstopften Lungen um Atem ringen; ich sehe seine blinden, wäßrigen Augen an die Decke starren, seine dürren Hände sich ans Plumeau krallen, die erschütternde Blässe seiner schrumpligen Haut. Ich kann diesen Assoziationen nicht entrinnen. Durch irgendeinen dunklen und unwillkürlichen Reflex haben jene Ereignisse sich für mich in den Konturen von Effings Gesicht festgesetzt, und sobald ich daran denke, sehe ich ihn wieder vor mir.
    Manchmal beschrieb ich auch nur das Zimmer, in dem wir saßen. Mit denselben Methoden, die ich auf unseren Spaziergängen entwickelt hatte, wählte ich irgendeinen Gegenstand aus und begann darüber zu sprechen. Das Muster der Tagesdecke, die Eckkommode, der gerahmte Stadtplan von Paris, der an der Wand neben dem Fenster hing. Soweit Effing noch in der Lage war, meinen Worten zu folgen, schienen ihm diese Bestandsaufnahmen großes Vergnügen zu bereiten. Wo jetzt so vieles von ihm abfiel, stand die unmittelbare körperliche Anwesenheit der Dinge wie eine Art Paradies am Rand seines Bewußtseins, wie ein unbetretbares Reich gewöhnlicher Wunder: das ertastbare, sichtbare, wahrnehmbare Umfeld allen Lebens. Indem ich diese Dinge in Worte faßte, gab ich Effing die Möglichkeit, sie noch einmal zu erleben, als sei es schon das unschätzbarste aller Güter, seinen Platz in der Welt der Dinge einnehmen zu können. In gewissem Sinne arbeitete ich in diesem Zimmer härter als je zuvor, konzentrierte mich auf die kleinsten Details und Materialien - Woll- und Baumwollzeug, Silber- und Zinngeschirr, Holzmaserungen und Stuckschnörkel -, vertiefte mich in jede Ritze, zählte sämtliche Farben und Formen auf, untersuchte die mikroskopische Geometrie alles dessen, was es dort zu sehen gab. Je schwächer Effing wurde, desto mehr strengte ich mich an, verdoppelte meine Bemühungen, um die stetig zwischen uns wachsende Distanz zu überbrücken. Am Ende hatte ich mich zu derart ausführlicher Präzision getrieben, daß ich für die Beschreibung des Zimmers mehrere Stunden brauchte. Ich rückte nur zentimeterweise voran, wollte mir nicht das Geringste entgehen lassen, nicht einmal die Staubkörnchen in der Luft. Ich erforschte die Grenzen dieses Raums, bis er unerschöpflich wurde, eine Fülle von Welten, die immer wieder neue Welten enthielten. Zu einem gewissen Zeitpunkt erkannte ich, daß ich wahrscheinlich ins Leere redete, sprach aber trotzdem weiter, wie hypnotisiert von der Vorstellung, daß meine Stimme das einzige sei, was Effing am Leben erhalten könne. Das änderte natürlich nichts. Er schwand dahin, und ich bezweifle, daß er in den letzten zwei Tagen, die ich mit ihm verbrachte, auch nur ein Wort von mir mitbekam.
    Bei seinem Tod war ich nicht anwesend. Nachdem ich am Elften bis acht Uhr abends bei ihm gesessen hatte, kam Mrs. Hume herein, um mich abzulösen, und bestand darauf, daß ich mir für den Rest der

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