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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Coffeeshop, ein schmuddeliges, dampfiges, von grellen Neonlampen beleuchtetes Loch. Über dem Tresen hingen zwölf bis fünfzehn Kunden, einer einsamer und unglücklicher als der andere. Ich hatte nur noch fünf oder sechs Scheine in meiner Tasche übrig und wußte plötzlich nicht, wie ich mit der Situation fertig werden sollte. Ich konnte nicht mehr denken, ich konnte nicht mehr entscheiden. Da mir nichts Besseres einfiel, knüllte ich das Geld in meiner Faust zusammen und schmiß es durch den Raum. «Wer will, kann’s haben!» kreischte ich. Und dann rannte ich hinaus und schob Effing wieder ins Gewitter.
    Nach diesem Abend hat er das Haus nicht mehr verlassen. Schon am nächsten Morgen setzte der Husten ein, und am Ende der Woche hatte das schleimige Rasseln von den Bronchien auf seine Lunge übergegriffen. Der herbeigerufene Arzt diagnostizierte eine Lungenentzündung. Er wollte Effing unverzüglich in ein Krankenhaus bringen lassen, aber der Alte weigerte sich, pochte auf sein Recht, im eigenen Bett sterben zu dürfen, und erklärte, wenn jemand es wage, Hand an ihn zu legen, um ihn aus der Wohnung zu holen, werde er sich umbringen. «Dann schneide ich mir die Kehle mit einer Rasierklinge durch», sagte er, «und Sie haben mich auf dem Gewissen.» Der Arzt hatte schon früher mit Effing zu tun gehabt und daher klugerweise eine Liste privater Pflegedienste mitgebracht. Mrs. Hume und ich trafen die nötigen Vorkehrungen, und in der nächsten Woche hatten wir alle Hände voll zu tun, beschäftigten uns mit Anwälten, Bankkonten, Vollmachten und so weiter. Es waren endlose Telefonate zu führen, zahllose Papiere zu unterschreiben, aber ich bezweifle, daß es sich lohnt, jetzt näher darauf einzugehen. Entscheidend war, daß ich am Ende mit Mrs. Hume Frieden schloß. Als ich an jenem Gewitterabend mit Effing in die Wohnung zurückkam, war sie so wütend, daß sie zwei Tage lang kein Wort mit mir sprach. Sie machte mich für seine Krankheit verantwortlich, und da ich die Sache im Grunde genauso sah, versuchte ich gar nicht erst, mich zu verteidigen. Es machte mich unglücklich, mit ihr über Kreuz zu liegen. Doch als ich gerade anfing, unser Zerwürfnis für dauerhaft zu halten, kehrte die Situation sich plötzlich um. Wie dies vor sich ging, ist mir völlig rätselhaft, aber ich kann mir vorstellen, daß sie sich Effing gegenüber dazu geäußert hat und er sie daraufhin überredet haben muß, mir deswegen keine Vorwürfe zu machen. Als ich sie das nächste Mal sah, nahm sie mich, Tränen der Rührung unterdrückend, in die Arme und bat um Verzeihung. «Seine Zeit ist gekommen», stellte sie feierlich fest. «Er ist jetzt bereit, jederzeit von uns zu gehen, und wir können ihn nicht mehr aufhalten.»
    Die Krankenschwestern arbeiteten in Acht-Stunden-Schichten, dazu kamen noch welche, die die Medikamente verabreichten, die Bettpfanne wechselten und sich um den Tropf kümmerten, den man an Effings Arm angeschlossen hatte. Mit wenigen Ausnahmen fand ich sie alle barsch und kaltherzig, und es braucht wohl nicht gesagt zu werden, daß Effing so wenig mit ihnen zu tun haben wollte wie möglich. Das galt bis zu den letzten Tagen, bis er schließlich zu schwach war, um sie noch wahrnehmen zu können. Er bestand darauf, daß sie sich nur dann in seinem Zimmer aufhalten durften, wenn sie eine bestimmte Arbeit zu verrichten hatten, und das führte dazu, daß sie meist auf dem Sofa im Wohnzimmer anzutreffen waren, wo sie in stummer Verachtung schmollten, in Zeitschriften blätterten und Zigaretten rauchten. Ein paar von ihnen ließen uns sitzen, ein paar andere mußten gefeuert werden. Doch abgesehen von dieser harten Haltung den Pflegerinnen gegenüber war Effings Verhalten bemerkenswert freundlich; von dem Augenblick an, da er sich ins Bett legte, schien seine Persönlichkeit wie verwandelt, als sei sie durch das Nahen des Todes von ihrem Gift gereinigt. Ich glaube nicht, daß er viel Schmerzen litt, und wenn es auch gute und schlechte Tage gab (einmal schien es sogar, als hätte er sich vollständig erholt, aber dem folgte nur zweiundsiebzig Stunden später ein Rückfall), war seine Krankheit doch eher ein allmähliches Schwächerwerden, ein langsamer und unaufhaltsamer Kräfteverlust, der sich fortsetzte, bis sein Herz am Ende zu schlagen aufhörte.
    Ich war jeden Tag bei ihm in diesem Zimmer, saß an seinem Bett, weil er mich bei sich haben wollte. Seit dem Gewitter hatte sich unser Verhältnis derart verändert, daß er

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