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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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gleicht der amerikanische Westen so sehr einer Mondlandschaft? So ging es immer weiter, und je mehr ich mich diesen verborgenen Übereinstimmungen öffnete, desto näher glaubte ich der Einsicht in irgendeine fundamentale Wahrheit über die Welt zu kommen. Mag sein, daß ich verrückt wurde, trotzdem spürte ich eine ungeheure Kraft in mir aufsteigen, eine Wonne des Erkennens, die tief ins Herz der Dinge eindrang. Ganz plötzlich, so plötzlich, wie ich diese Kraft erworben hatte, verlor ich sie wieder. Ich hatte drei oder vier Tage in meinen Gedanken gelebt, und eines Morgens wachte ich auf und merkte, daß ich woanders war: zurück in der Welt der Fragmente, zurück in der Welt des Hungers und kahler weißer Wände. Ich mühte mich, das Gleichgewicht der vorangegangenen Tage wiederzuerlangen, doch es gelang mir nicht. Schwer lag die Welt wieder auf mir, und ich vermochte kaum zu atmen.
    Ich geriet in eine neue Phase der Trostlosigkeit. Bis dahin hatte Starrsinn mich aufrechterhalten, doch ganz allmählich fühlte ich meine Entschlossenheit wanken, und am 1. August war ich zur Kapitulation bereit. Ich tat mein möglichstes, mit einer Reihe von Freunden Verbindung aufzunehmen, fest entschlossen, sie um ein Darlehen zu bitten, doch kam nicht viel dabei heraus. Ein paar erschöpfende Fußmärsche in der Hitze, eine Tasche voll vergeudeten Kleingelds. Es war Sommer, und alles schien die Stadt verlassen zu haben. Selbst Zimmer, der einzige Mensch, auf den ich mich verlassen konnte, war seltsamerweise verschwunden. Mehrmals ging ich zu seiner Wohnung an der Ecke Amsterdam Avenue und 120th Street, doch niemand öffnete auf mein Klingeln. Ich schob Nachrichten in den Briefkasten und unter die Tür, aber noch immer erfolgte keine Reaktion. Viel später erfuhr ich, daß Zimmer in eine andere Wohnung umgezogen war. Als ich ihn fragte, warum er mir seine neue Anschrift nicht mitgeteilt habe, sagte er, ich hätte ihm erzählt, daß ich den Sommer in Chicago verbringen würde.
    Ich hatte diese Lüge natürlich vergessen, aber inzwischen hatte ich so viele Lügen verbreitet, daß ich den Überblick verlor.
    Da ich nicht wußte, daß Zimmer umgezogen war, ging ich immer wieder zu der alten Wohnung, um Nachrichten unter die Tür zu schieben. Eines Sonntagmorgens Anfang August geschah schließlich das Unvermeidliche. Ich klingelte in der Gewißheit, niemanden anzutreffen, wandte mich beim Drücken des Knopfes sogar schon zum Gehen, als ich aus der Wohnung Geräusche vernahm: das Scharren eines Stuhls, dumpfe Schritte, ein Husten. Eine Woge der Erleichterung durchlief mich, zerrann aber sogleich zu nichts, als die Tür sich öffnete. Dort stand ein anderer als Zimmer. Ein ganz anderer: ein junger Mann mit dunklem, lockigem Bart und schulterlangem Haar. Ich vermutete, daß er gerade aufgewacht sei, da er mit nichts als einer Unterhose bekleidet war. «Was kann ich für Sie tun?» fragte er und musterte mich mit freundlicher, wenn auch etwas verwirrter Miene; und in diesem Moment hörte ich Gelächter aus der Küche (ein Gemisch männlicher und weiblicher Stimmen) und merkte, daß ich in eine Art Party geraten war.
    «Ich glaube, ich bin hier nicht richtig», sagte ich. «Eigentlich will ich zu David Zimmer.»
    «Ach», sagte der Fremde ohne zu zögern, «du mußt Fogg sein. Ich habe mich schon gefragt, wann du wieder auftauchst.»
    Draußen war es brutal heiß - ein sengendes Hundstagewetter -, und der Gang hatte mir fast den Rest gegeben. Schweiß rann mir in die Augen, meine Muskeln fühlten sich ganz schwammig und benommen an, und als ich jetzt so vor der Tür stand, fragte ich mich, ob ich den Fremden richtig verstanden hatte. Zunächst wollte ich einfach kehrtmachen und weglaufen, aber dann wurde mir plötzlich so schwach, daß ich befürchtete, in Ohnmacht zu fallen. Ich legte meine Hand an den Türrahmen, um mich abzustützen, und sagte: «Entschuldigung, aber könntest du mir das noch einmal sagen? Ich glaube, ich habe das nicht ganz mitbekommen.»
    «Ich sagte, du mußt Fogg sein», wiederholte der Fremde. «Ist doch ganz einfach. Wenn du zu Zimmer willst, dann mußt du Fogg sein. Weil ein Fogg die ganzen Zettel unter die Tür geschoben hat.»
    «Sehr scharfsinnig», sagte ich und stieß einen leisen, zittrigen Seufzer aus. «Wo Zimmer jetzt ist, weißt du vermutlich nicht.»
    «Tut mir leid. Habe nicht die geringste Ahnung.»
    Wieder versuchte ich mich zum Gehen aufzuraffen, doch als ich mich gerade umwenden wollte, bemerkte

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