Mond über Manhattan
ich, daß der Fremde mich anstarrte. Ein seltsamer, durchdringender Blick, direkt auf mein Gesicht gerichtet. «Stimmt was nicht?» fragte ich ihn.
«Ich habe überlegt, ob du ein Freund von Kitty bist.»
«Kitty?» sagte ich. «Ich kenne keine Kitty. Ist mir noch nie über den Weg gelaufen.»
«Du trägst genauso ein Hemd wie sie. Deswegen dachte ich, du könntest irgendwie mit ihr zu tun haben.»
Ich sah auf meine Brust hinunter und stellte fest, daß ich ein Mets-T-Shirt trug. Ich hatte es Anfang des Jahres für zehn Cent bei einem Ramschverkauf erstanden. «Die Mets mag ich eigentlich gar nicht», sagte ich. «Die einzige Mannschaft, aus der ich mir was mache, sind die Cubs.»
«Komischer Zufall», fuhr der Fremde fort, ohne überhaupt auf mich zu hören. «Kitty wird begeistert sein. Sie liebt so was.»
Und bevor ich noch dagegen protestieren konnte, wurde ich auch schon am Arm in die Küche geführt. Dort traf ich auf eine Versammlung von fünf oder sechs Leuten, die beim sonntäglichen Frühstück um den Tisch saßen. Der Tisch war vollgestellt mit Lebensmitteln: Schinken und Eier, eine volle Kaffeekanne, Brötchen und Schmelzkäse, eine Platte mit geräuchertem Fisch. Derartiges hatte ich seit Monaten nicht mehr gesehen, und ich wußte kaum, wie ich mich verhalten sollte. Es war, als wäre ich unversehens mitten in ein Märchen geraten. Ich war das hungrige Kind, das sich im Wald verirrt hatte, und jetzt hatte ich das Hexenhaus gefunden, die aus Eßsachen gebaute Hütte.
«Seht mal her», verkündete grinsend mein halbnackter Gastgeber. «Das ist Kittys Zwillingsbruder.»
Nun wurde ich den Leuten am Tisch vorgestellt. Jeder einzelne lächelte mich an und sagte hallo, und ich tat mein Bestes, zurückzulächeln. Es stellte sich heraus, daß die meisten von ihnen auf der Juilliard studierten - es waren Musiker, Tänzer, Sänger. Der Gastgeber hieß Jim oder John, er war gerade am Tag zuvor in Zimmers alte Wohnung eingezogen. Die anderen hätten die Nacht auf irgendeiner Party verbracht, erzählte jemand, und anstatt danach den Heimweg anzutreten, hätten sie beschlossen, Jim oder John mit einem improvisierten Einzugsfrühstück zu überfallen. Das erklärte seine wenig vollständige Kleidung (er hatte geschlafen, als sie bei ihm klingelten) und die Massen von Lebensmitteln, die ich vor mir sah. Während sie mir all das erzählten, nickte ich höflich, tat aber nur so, als ob ich zuhörte. Nichts hätte mich weniger interessieren können, und als die Geschichte aus war, hatte ich keinen einzigen Namen behalten. Da ich nichts Besseres zu tun hatte, betrachtete ich meine Zwillingsschwester, eine kleine, neunzehn bis zwanzig Jahre alte Chinesin mit silbernen Armbändern an beiden Handgelenken und einem perlenbestickten Navajo-Stirnband um den Kopf. Sie erwiderte meinen Blick mit einem Lächeln - einem außerordentlich warmen Lächeln, fand ich, sehr humorvoll und komplizenhaft -, und dann wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Tisch zu; länger davon wegzusehen, fehlte mir die Kraft. Ich merkte, daß ich kurz davor war, mich in Verlegenheit zu bringen. Die Essensdüfte folterten mich nachgerade, und als ich so da stand und darauf wartete, daß man mich zum Hinsetzen aufforderte, mußte ich mich sehr zusammenreißen, um nicht irgendwas vom Tisch zu raffen und es mir in den Mund zu stopfen.
Schließlich war es Kitty, die das Eis brach. «Wenn mein Bruder schon mal da ist», sagte sie, die Lage offensichtlich erfassend, «könnten wir ihn wenigstens bitten, mit uns zu frühstücken.» Ich hätte sie küssen mögen, weil sie meine Gedanken so gut erriet. Es entstand jedoch ein peinlicher Augenblick, da kein Stuhl für mich zu finden war; aber wieder kam Kitty mir zu Hilfe, indem sie mir bedeutete, ich solle mich zwischen sie und die Person zu ihrer Rechten setzen. Sogleich zwängte ich mich dort hinein und belegte jeden der beiden Stühle mit einer Backe. Man stellte mir einen Teller mit den nötigen Gerätschaften hin: Messer und Gabel, Glas und Tasse, Serviette und Löffel. Und dann vergaß ich alles um mich her und aß wie im Fieber. Es war eine infantile Reaktion, aber nachdem ich den ersten Bissen im Mund hatte, konnte ich mich nicht mehr beherrschen. Ich schlang einen Teller nach dem andern hinunter, putzte alles weg, was sie mir hinstellten, und am Ende mußte es aussehen, als hätte ich den Verstand verloren. Da die Großzügigkeit der anderen keine Grenzen zu kennen schien, aß ich so lange weiter,
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