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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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eigenartiger Schleier über ihre Augen, eine natürliche und vielleicht auch notwendige Form der Gleichgültigkeit den anderen gegenüber. Zum Beispiel ist es ganz gleich, wie man aussieht. Ausgefallene Kostüme, bizarre Frisuren, T-Shirts mit obszönen Aufdrucken - auf so was achtet kein Mensch. Andererseits ist es von äußerster Wichtigkeit, wie man sich in seinen Kleidern verhält. Irgendwelche seltsamen Gebärden werden automatisch als bedrohlich empfunden. Laut mit sich selber reden, sich kratzen, jemandem direkt in die Augen sehen: solche Abweichungen von der Norm können bei den Mitmenschen feindliche und manchmal gewalttätige Reaktionen auslösen. Man darf weder torkeln noch ohnmächtig werden, man darf sich nicht an den Mauern festhalten, man darf nicht singen, da jegliches spontane oder eigenwillige Verhalten sofort die Blicke auf sich zieht und man sich damit bissige Bemerkungen oder gelegentlich auch einen Stoß oder einen Tritt ans Schienbein einhandelt. Ich war nicht so schlimm dran, daß mir irgend etwas Derartiges passierte, aber bei anderen habe ich es gesehen, und mir war klar, daß ich mich eines Tages vielleicht auch nicht mehr unter Kontrolle haben würde. Im Gegensatz dazu konnte man sich im Central Park wesentlich mehr gehen lassen. Niemand dachte sich etwas dabei, wenn man sich im Gras ausstreckte und mitten am Tag ein Schläfchen hielt. Niemand sah hin, wenn man unter einem Baum saß und einfach gar nichts tat, wenn man Klarinette spielte, wenn man aus vollem Halse herumschrie. Bis auf die Büroangestellten, die um die Mittagszeit in den äußeren Bezirken des Parks herumschlichen, verhielt sich die Mehrheit der Leute dort wie im Urlaub. Dieselben Dinge, die auf der Straße beunruhigt hätten, wurden hier als ungezwungener Zeitvertreib genehmigt. Die Leute lächelten einander zu, gingen Hand in Hand, nahmen ungewöhnliche Haltungen ein, küßten sich. Leben und leben lassen, und solange man sich nicht in anderer Leute Angelegenheiten einmischte, konnte man tun, was einem gerade einfiel.
    Der Park hat mir zweifellos sehr gut getan. Hier konnte ich mich zurückziehen, und mehr noch, hier konnte ich so tun, als ginge es mir gar nicht so schlecht, wie es in Wirklichkeit der Fall war. Das Gras und die Bäume dachten demokratisch, und wenn ich spätnachmittags in der Sonne faulenzte oder am frühen Abend zwischen den Felsen herumkletterte, um mir einen Platz zum Schlafen zu suchen, hatte ich das Gefühl, mit meiner Umgebung so zu verschmelzen, daß ich auch für ein geübtes Auge als einer der Picknickmacher oder Spaziergänger um mich her erscheinen mochte. Die Straße ließ solche Täuschungen nicht zu. Wann immer ich in der Menge ging, wurde ich mir nur allzu bald meiner Schande bewußt. Ich fühlte mich wie ein Vagabund, ein Versager, ein Fleck, eine Pocke auf der Haut der Menschheit. Mit jedem Tag wurde ich ein bißchen schmutziger, ein bißchen zerlumpter und verwirrter, ein bißchen andersartiger als die anderen. Im Park hatte ich mich mit dieser Befangenheit nicht zu plagen. Hier gab es eine Schwelle, eine Grenze, etwas, womit Innen und Außen zu unterscheiden waren. Während die Straße mich zwang, mich mit den Augen der anderen zu sehen, gab der Park mir Gelegenheit, in meine Innenwelt zurückzukehren, mich ganz an das zu halten, was sich in meinem Innern abspielte. Es ist möglich, stellte ich fest, ohne ein Dach über dem Kopf zu überleben, aber ohne ein Gleichgewicht zwischen Innen und Außen kann man nicht leben. Der Park verhalf mir zu diesem Gleichgewicht. Er war vielleicht nicht gerade eine Heimat, aber mangels irgendeiner anderen Unterkunft doch etwas sehr Ähnliches.
    Immer wieder stießen mir dort unerwartete Dinge zu, Dinge, die mir jetzt, wenn ich daran denke, fast unmöglich scheinen. Einmal zum Beispiel kam eine junge Frau mit hellroten Haaren auf mich zu und drückte mir einen Fünf-Dollar-Schein in die Hand - einfach so, ohne jede Erklärung. Ein andermal luden mich ein paar Leute ein, mich zu ihnen zum Picknick ins Gras zu setzen. Einige Tage darauf verbrachte ich den ganzen Nachmittag als Mitspieler bei einem Softballmatch. Wenn man meinen damaligen körperlichen Zustand in Betracht zieht, gab ich eine recht ordentliche Vorstellung (zwei oder drei Läufe über ein Mal, ein gehechteter Fang im linken Außenfeld), und immer wenn meine Mannschaft am Schlagen war, boten mir die anderen Spieler etwas zu essen, trinken und rauchen an: Sandwiches und Brezeln, Dosenbier,

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