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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Zigarren, Zigaretten. Das waren glückliche Momente für mich, die mir auch über einige düstere Phasen hinweghalfen, in denen ich mich vom Glück verlassen wähnte. Vielleicht war es das, was ich mir eigentlich hatte beweisen wollen: daß man, wenn man sein Leben in den Wind wirft, Dinge entdeckt, von denen man vorher gar nichts wußte, Dinge, die unter anderen Umständen gar nicht zu erfahren sind. Ich war halbtot vor Hunger, doch wenn mir einmal etwas Gutes widerfuhr, schrieb ich es nicht dem Zufall zu, sondern eher einem bestimmten Geisteszustand. Wenn es mir gelang, ein vernünftiges Gleichgewicht zwischen Verlangen und Gleichgültigkeit zu bewahren, spürte ich, daß ich das Universum irgendwie dazu bringen konnte, auf mich zu reagieren. Wie sonst hätte ich die außerordentlichen Akte der Großmütigkeit, die mir im Central Park widerfuhren, interpretieren sollen? Ich habe niemals irgendwen um irgendwas gebeten, ich habe mich nie von meinem Platz bewegt, und doch sind ständig Fremde zu mir gekommen und haben mir geholfen. Von mir muß so etwas wie eine bezwingende Kraft in die Welt ausstrahlen, dachte ich, ein unbestimmbares Etwas, das die Leute dazu veranlaßt. Im Lauf der Zeit fand ich heraus, daß mir Gutes nur dann widerfuhr, wenn ich aufhörte, es mir zu wünschen. Wenn das stimmte, mußte auch das Gegenteil stimmen: Etwas zu sehr wünschen hieß, sein Eintreten zu verhindern. Das war die logische Schlußfolgerung aus meiner Theorie, denn wenn ich mir bewiesen hatte, daß ich die Welt anlocken konnte, dann folgte daraus auch, daß ich sie abweisen konnte. Mit anderen Worten, man bekam das, was man haben wollte, nur dann, wenn man es nicht haben wollte. Das ergab zwar keinen Sinn, aber eben die Unverständlichkeit der Beweisführung empfand ich als reizvoll. Wenn meine Bedürfnisse nur dadurch zu befriedigen waren, daß ich nicht mehr an sie dachte, dann mußte jedes Nachdenken über meine Lage diese selbst noch verschlimmern. Sobald ich mir diese Idee zu eigen gemacht hatte, war mein Bewußtseinszustand nur noch mit einem unmöglichen Drahtseilakt zu vergleichen. Denn wie soll man nicht an seinen Hunger denken, wenn man ständig Hunger hat? Wie soll man seinen Magen zum Schweigen bringen, wenn er einen unablässig anfleht, daß er gefüllt werden möchte? Es ist so gut wie unmöglich, solche Bitten zu ignorieren. Immer wieder gab ich ihnen nach, und dann wußte ich sofort, daß ich mir selbst die Chance genommen hatte, mir helfen zu lassen. Diese Folge war unausweichlich, so starr und präzise wie eine mathematische Formel. Solange ich mir über meine Probleme Sorgen machte, wandte die Welt mir den Rücken zu. Damit blieb mir keine Wahl, als für mich selbst zu sorgen, zu schnorren, ganz allein das Beste daraus zu machen. So verging die Zeit. Ein Tag, zwei Tage, vielleicht auch drei oder vier, und nur ganz allmählich schlug ich mir jeden Gedanken an Rettung aus dem Kopf, bis ich mich endlich aufgab. Erst dann kam es zu jenen wundersamen Ereignissen. Sie kamen jedesmal wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ich konnte sie nicht vorhersagen, und waren sie einmal eingetreten, konnte ich mich unmöglich auf das Eintreten eines nächsten verlassen. Jedes Wunder war daher stets das letzte Wunder. Und da es das letzte war, wurde ich immer wieder an den Ausgangspunkt zurückgeworfen, mußte ich den Kampf ständig aufs neue beginnen.
    Einen Teil jedes Tages verbrachte ich im Park mit der Suche nach Nahrung. Das half die Ausgaben niedrig halten und zögerte außerdem den Augenblick hinaus, wo ich mich wieder auf die Straße wagen mußte. Die Straßen machten mir immer größere Angst, und ich war so ziemlich zu allem bereit, um nur nicht dorthin zu müssen. Besonders hilfreich in dieser Beziehung waren die Wochenenden. Bei gutem Wetter kamen die Leute in Scharen in den Park, und ich fand bald heraus, daß die meisten sich etwas zu essen dorthin mitbrachten: alle möglichen Lunchpakete und Snacks, mit denen sie sich nach Herzenslust vollstopften. Da wurde natürlich viel weggeworfen, Unmengen von eßbarem Abfall. Ich brauchte eine Weile, um mich darauf einzustellen, aber nachdem ich einmal die Vorstellung akzeptiert hatte, mir Sachen in den Mund zu stecken, die bereits von anderen Mündern berührt worden waren, standen mir gewaltige Nahrungsmengen zur Verfügung. Pizzaränder, Stücke von Hot dogs, Reste von belegten Baguettes, dazwischen Dosen mit Sodawasser - die Wiesen und Felsen waren übersät damit, die

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