Mond über Manhattan
Abfalleimer platzten regelrecht aus den Nähten. Um meiner Zimperlichkeit einen Streich zu spielen, begann ich den Mülleimern lustige Namen zu geben. Ich nannte sie zylindrische Restaurants, Eßwundertüten, städtische Care-Pakete - Hauptsache, ich hielt mich davon ab, sie beim richtigen Namen zu nennen. Einmal, als ich gerade in einem herumwühlte, trat ein Polizist auf mich zu und fragte, was ich da machte. Völlig fassungslos stammelte ich ein paar Worte, bis ich damit herausplatzte, ich sei Student. Ich arbeite an einem Stadtforschungsprojekt, sagte ich, und habe den ganzen Sommer über statistische und soziologische Untersuchungen über den Inhalt von Abfalleimern angestellt. Um meine Geschichte glaubhafter zu machen, zog ich meinen Studentenausweis von der Columbia aus der Tasche und hoffte nur, der Polizist würde nicht merken, daß er im Juni abgelaufen war. Er musterte kurz das Bild, sah mir ins Gesicht, verglich es noch einmal mit dem Bild und zuckte dann die Achseln. Passen Sie nur auf, daß Sie den Kopf nicht zu tief da reinstecken, sagte er. Sonst könnten Sie mal drin steckenbleiben.
Das soll nicht heißen, daß mir das angenehm war. Es war durchaus nicht romantisch, sich nach Krümeln zu bücken, und der anfängliche Reiz des Neuen war schnell vorbei. Ich erinnerte mich an eine Szene in einem Buch, das ich mal gelesen hatte, Lazarillo de Tormes; darin läuft ein hungriger Hidalgo mit einem Zahnstocher im Mund herum, um den Eindruck zu erwecken, er komme gerade von einem großen Mahl. Auch ich verlegte mich nun auf diese Maskerade und nahm mir immer eine Handvoll Zahnstocher mit, wenn ich in irgendeinem Lokal eine Tasse Kaffee trinken ging. So hatte ich in den unausgefüllten Zeiten zwischen den Mahlzeiten immer etwas zu beißen, aber ich bildete mir auch ein, meinem Äußeren damit eine gewisse unbefangene Note zu geben, quasi Selbstgenügsamkeit und Ruhe auszustrahlen. Das war nicht viel, aber ich brauchte alle Requisiten, die ich finden konnte. Besonders schwer fiel es mir, mich einem Mülleimer zu nähern, wenn ich das Gefühl hatte, von anderen beobachtet zu werden, und ich bemühte mich immer, so diskret wie möglich vorzugehen. Wenn mein Hunger sich im allgemeinen gegen meine Hemmungen durchsetzte, dann schlichtweg deshalb, weil er zu mächtig war. Mehrmals hörte ich Leute über mich lachen, und ein- oder zweimal zeigten kleine Kinder in meine Richtung und sagten zu ihren Müttern, sie sollten mal den komischen Mann anschauen, der da aus der Mülltonne esse. So etwas vergißt man nie, ganz gleich, wieviel Zeit seither vergangen ist. Ich mühte mich, meine Wut zu beherrschen, aber ich erinnere mich an mindestens einen Zwischenfall, wo ich einen kleinen Jungen so grimmig anknurrte, daß er in Tränen ausbrach. Im großen und ganzen jedoch gelang es mir, diese Demütigungen als natürliche Bestandteile meines gegenwärtigen Lebens zu akzeptieren. Wenn ich mich besonders stark fühlte, deutete ich sie als spirituelle Initiationsriten, als Hindernisse, die mir in den Weg geworfen wurden, um mein Selbstvertrauen zu prüfen. Wenn ich lernte, sie zu meistern, würde ich am Ende einen höheren Bewußtseinszustand erreichen. Wenn ich mich weniger überschwenglich fühlte, betrachtete ich mich eher aus einer politischen Perspektive, in der Hoffnung, meinen Zustand dadurch rechtfertigen zu können, daß ich ihn als Herausforderung an den American way of life interpretierte. Ich sei ein Werkzeug der Sabotage, sagte ich mir, ein loser Teil in der Staatsmaschine, ein Außenseiter, der die Aufgabe habe, den Sand im Getriebe zu spielen. Niemand könne mich ansehen, ohne Scham, Wut oder Mitleid zu empfinden. Ich sei der lebendige Beweis dafür, daß das System versagt habe, daß das selbstgefällige, überfütterte Land des Überflusses nun endlich zu Bruch gehe.
Gedanken wie diese beschäftigten mich über weite Teile des Tages. Ich war mir stets aufs schärfste bewußt, was mit mir passierte, aber kaum passierte etwas, da reagierte mein Geist auch schon darauf, entbrannte in agitatorischer Leidenschaft. Mir schwirrte der Kopf vor papierenen Theorien, Wortgefechten, ausgefeilten Selbstgesprächen. Später, nach meiner Rettung, wurde ich von Zimmer und Kitty immer wieder gefragt, wie ich es nur fertiggebracht hätte, so viele Tage lang nichts zu tun. Ob ich mich nicht gelangweilt hätte, wollten sie wissen. Ob ich das nicht sehr öde gefunden hätte. Die Fragen waren vernünftig, aber in Wahrheit habe ich
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