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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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mich nie gelangweilt. Ich war im Park allen möglichen Stimmungen und Gefühlen unterworfen, doch Langeweile gehörte nicht dazu. Wenn ich nicht mit praktischen Angelegenheiten beschäftigt war (einen Platz zum Schlafen suchen, für meinen Magen sorgen), hatte ich immer eine Menge anderer Sachen zu tun. Am Vormittag fand ich meist in irgendeinem Abfalleimer eine Zeitung, und im Verlauf der nächsten Stunde studierte ich gewissenhaft die Seiten, um nicht den Anschluß an den Lauf der Welt zu verlieren. Der Krieg ging natürlich weiter, und es gab auch noch andere Ereignisse: Chappaquiddick, die Acht von Chicago, den Black-Panther-Prozeß, eine zweite Mondlandung, die Mets. Mit besonderem Interesse verfolgte ich den spektakulären Untergang der Cubs, ich fand es erstaunlich, wie gründlich die Mannschaft durcheinandergeraten war. Kaum zu übersehen waren für mich die Zusammenhänge zwischen ihrem Sturz von der Spitze und meiner eigenen Situation, auch wenn ich nichts davon persönlich nahm. Im Grunde freute ich mich sogar ziemlich über das gute Abschneiden der Mets. Deren Vergangenheit war noch entsetzlicher als die der Cubs, und ihr plötzliches, völlig unwahrscheinliches Auftauchen aus der Versenkung schien mir zu beweisen, daß in dieser Welt alles möglich sei. Tröstlich war dieser Gedanke nicht. Das Kausalitätsgesetz als heimlicher Herrscher des Universums hatte abgedankt: Unten war oben, die letzten waren die ersten, das Ende war der Anfang. Heraklit war von seinem Misthaufen wiederauferstanden, und was er uns zu zeigen hatte, war die einfachste aller Wahrheiten: Die Wirklichkeit war ein Jo-Jo, beständig war nur die Veränderung.
    Wenn ich genug über die Neuigkeiten des Tages nachgedacht hatte, schlenderte ich gewöhnlich eine Weile durch den Park, um Gebiete zu erforschen, die ich noch nicht besucht hatte. Ich genoß die paradoxe Situation, in einer vom Menschen geschaffenen natürlichen Welt zu leben. Der Park war gewissermaßen Natur in gesteigerter Form, und er bot eine Vielfalt von Plätzen und Geländen, wie sie in der Natur selten auf einem so eng umschriebenen Gebiet vorkommen. Hügel und Felder, steinige Flächen und Dschungel von Laubwerk, sanfte Weiden und Höhlennetze. Es machte mir Spaß, zwischen diesen verschiedenen Abschnitten hin und her zu spazieren, denn dabei konnte ich mir einbilden, große Entfernungen zurückzulegen, und blieb doch immer in den Grenzen meiner winzigen Welt. Dann gab es natürlich, am Ende des Parks, den Zoo, und es gab den Teich, wo die Leute kleine Boote mieteten, und das Reservoir und die Kinderspielplätze. Ich verbrachte ziemlich viel Zeit damit, einfach den Leuten zuzusehen: Ich studierte ihre Gebärden und ihren Gang, dachte mir ihre Lebensgeschichten aus, versuchte mich ganz in meine Sinneseindrücke zu verlieren. Oftmals, wenn mein Geist besonders leer war, gab ich mich wie ein Besessener irgendwelchen stumpfsinnigen Spielereien hin. Zum Beispiel zählte ich die Leute, die an einem bestimmten Punkt vorbeikamen, oder ich ordnete Gesichter Tieren zu, denen sie ähnlich waren - Schweine oder Hunde, Nagetiere oder Vögel, Schnecken, Beuteltiere, Katzen. Gelegentlich zeichnete ich diese Beobachtungen in meinem Notizbuch auf, doch meistens hatte ich wenig Lust zum Schreiben, da ich mich nicht durch irgendwelche ernsthafte Betätigungen von meiner Umgebung abheben wollte. Mir wurde klar, daß ich bereits viel zuviel Zeit meines Lebens mit Worten verbracht hatte, und wenn mein jetziges Leben irgendeinen Sinn für mich haben sollte, würde ich es so intensiv wie möglich leben und alles meiden müssen, was nichts mit dem Hier und Jetzt, dem Greifbaren, den ungeheuren Sinneseindrücken auf meiner Haut zu tun hatte.
    Gefahren begegneten mir dort auch, aber nichts wirklich Schreckliches, nichts, vor dem ich am Ende nicht davonlaufen konnte. Eines Morgens setzte sich ein alter Mann neben mich auf eine Bank, streckte die Hand aus und stellte sich als Frank vor. «Du kannst mich auch Bob nennen, wenn du willst», sagte er, «ich bin nicht kleinlich. Solange du nicht Bill zu mir sagst, werden wir gut miteinander auskommen.» Und dann stürzte er sich fast übergangslos in eine komplizierte Geschichte, die von Pferdewetten handelte, verbreitete sich endlos über eine Tausend-Dollar-Wette, die er 1936 abgeschlossen hatte und an der ein Pferd namens Cigarillo, ein Gangster namens Duke und ein Jockey namens Tex beteiligt gewesen waren. Ich konnte ihm schon nach dem dritten Satz

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