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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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paar lose Äste mit hinein, um den Eingang zu verschließen, und schlief auf der Stelle ein.
    Wie lange ich dort gewesen bin, weiß ich nicht. Es dürften zwei oder drei Tage gewesen sein, aber das spielt jetzt kaum noch eine Rolle. Als Zimmer und Kitty mich danach fragten, sagte ich drei Tage, aber nur deshalb, weil drei eine dichterische Zahl ist, dieselbe Anzahl von Tagen, die Jonas im Bauch des Wals verbrachte. Die meiste Zeit war ich kaum bei Bewußtsein, und selbst wenn ich wach zu sein schien, war ich so mit meinen körperlichen Beschwerden beschäftigt, daß ich nicht einmal wußte, wo ich mich überhaupt befand. Ich erinnere mich an lange Brechanfälle, an entsetzliche Augenblicke, in denen mein Körper nicht aufhören wollte zu zittern, an Zeiten, in denen ich nichts anderes hörte als das Klappern meiner Zähne. Das Fieber muß ziemlich hoch gewesen sein, und es gab mir böse Träume ein - endlos ineinanderfließende Visionen, die unmittelbar aus meiner brennenden Haut zu steigen schienen. Nichts konnte in mir seine Form bewahren. Einmal sah ich, bunter als je in der Wirklichkeit, die Leuchtreklame des Moon Palace vor mir: MOON PALACE - die rosa und blauen Neonbuchstaben waren so groß, daß der ganze Himmel von ihrer Leuchtkraft erhellt wurde. Dann verschwanden die Buchstaben, und nur noch die zwei O in MOON blieben übrig. Ich sah mich an einem der beiden hängen und mich verzweifelt festklammern wie ein Akrobat, der eine gefährliche Nummer verpatzt hat. Dann ringelte ich mich wie ein winziger Wurm darum herum, und dann war ich auf einmal nicht mehr da. Die beiden O waren zu Augen geworden, zu riesigen Menschenaugen, die verächtlich und unduldsam auf mich herabblickten. Sie hörten nicht auf, mich anzustarren, und nach einer Weile war ich davon überzeugt, daß es die Augen Gottes waren.
    Am letzten Tag kam die Sonne heraus. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, aber irgendwann muß ich aus der Höhle gekrochen sein und mich im Gras ausgestreckt haben. Ich war so durcheinander, daß ich mir einbildete, die Wärme der Sonne könnte mein Fieber verdampfen lassen, könnte mir buchstäblich die Krankheit aus den Knochen saugen. Ich weiß noch, daß ich mir immer wieder das Wort Indianersommer vorsagte, so lange, bis es seinen Sinn verloren hatte. Der Himmel über mir war ungeheuer, eine unendliche, blendend durchsichtige Weite. Ich hatte das Gefühl, wenn ich noch länger hineinstarrte, würde ich mich in dem Licht auflösen. Ohne zu merken, daß ich einschlief, begann ich plötzlich von Indianern zu träumen. Es war vor 350 Jahren, und ich sah mich einer Gruppe halbnackter Männer durch die Wälder von Manhattan folgen. Es war ein seltsam kraftvoller Traum, erbarmungslos und exakt, voller Gestalten, die zwischen den lichtgesprenkelten Blättern und Ästen einherjagten. Ein leichter Wind fuhr durch das Laubwerk, dämpfte die Schritte der Männer, und ich folgte ihnen schweigend, bewegte mich ebenso flink wie sie, spürte mit jedem Schritt, daß ich dem Geist des Waldes auf der Spur war. Vielleicht erinnere ich mich deshalb so gut an diese Bilder, weil genau in diesem Augenblick Zimmer und Kitty mich gefunden haben: mit diesem merkwürdigen, angenehmen Traum im Kopf auf dem Gras liegend. Kitty sah ich als erste, erkannte sie aber nicht, obwohl ich das Gefühl hatte, sie zu kennen. Sie trug ihr Navajo-Stirnband, und zunächst hielt ich sie für ein Nachbild, eine Schattenfrau, geboren aus dem Dunkel meines Traums. Später erzählte sie mir, ich hätte sie angelächelt, und als sie sich über mich gebeugt habe, soll ich sie Pocahontas genannt haben. Ich weiß noch, daß die Sonne es mir schwermachte, sie zu sehen, aber ganz deutlich erinnere ich mich, daß sie Tränen in den Augen hatte, als sie sich hinunterbeugte, obwohl sie das später nie zugeben wollte. Gleich darauf kam auch Zimmer ins Bild, und dann hörte ich seine Stimme: «Du blöder Idiot», sagte er. Es gab eine kurze Pause, und um mich nicht mit einer allzu langen Rede zu verwirren, sagte er dasselbe noch einmal: «Du blöder Idiot. Du armer, blöder Idiot.»

 
DRITTES KAPITEL
     
    Über einen Monat blieb ich in Zimmers Wohnung. Das Fieber ging am zweiten oder dritten Tag zurück, aber noch lange danach hatte ich keine Kraft und konnte kaum aufrecht stehen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Anfangs kam Kitty etwa zweimal die Woche vorbei, sprach aber nie sehr viel und ging meist nach zwanzig oder dreißig Minuten schon wieder. Hätte ich

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