Mond über Manhattan
legte ich ohne lange nachzudenken eine neue Klinge in meinen Rasierapparat ein, die letzte, die ich noch im Rucksack hatte, und begann meine wilden Schlangenlocken abzuhacken. Als ich fertig war, war mein Haar so kurz, daß ich mich selbst kaum wiedererkannte. Meine Magerkeit trat nun geradezu erschreckend hervor. Meine Ohren standen ab, mein Adamsapfel wölbte sich, mein Kopf wirkte größer als der eines Kindes. Ich fange an zu schrumpfen, sagte ich zu mir, und plötzlich hörte ich mich laut zu dem Gesicht im Spiegel sprechen. «Keine Angst», sagte meine Stimme. «Niemand darf mehr als einmal sterben. Bald ist die Komödie vorbei, und dann wirst du sie nie wieder durchmachen müssen.»
Ein paar Stunden des Vormittags verbrachte ich im Lesesaal der öffentlichen Bücherei; an diesem stickigen Ort, so hoffte ich, würden meine Kleider schneller trocken werden. Als sie dann tatsächlich zu trocknen anfingen, begannen sie leider auch zu stinken. Es war, als hätten sämtliche Falten und Risse meiner Kleider auf einmal beschlossen, der Welt ihre Geheimnisse mitzuteilen. Das war vorher noch nie passiert, und es erschreckte mich, daß mein Körper einen solch abscheulichen Geruch ausströmen sollte. Die Vermischung von altem Schweiß und Regenwasser mußte irgendeine bizarre chemische Reaktion in Gang gesetzt haben, und der Gestank wurde immer häßlicher und penetranter, je mehr die Kleider trockneten. Am Ende wurde es so schlimm, daß ich sogar meine Füße riechen konnte - ein entsetzlicher Gestank, der durch das Leder meiner Stiefel kam und mir wie eine Giftwolke in die Nase stieg. Es schien mir unfaßbar, daß mir so etwas geschehen konnte. Ich blätterte weiter in der Encyclopaedia Britannica herum und hoffte, daß niemand den Geruch bemerken würde, doch diese Gebete erwiesen sich bald als vergeblich. Ein alter Mann, der mir am Tisch gegenübersaß, blickte von seiner Zeitung auf, schnüffelte und sah dann angewidert in meine Richtung. Ich war kurz versucht, aufzuspringen und ihn wegen seiner Unhöflichkeit zurechtzuweisen, merkte aber, daß mir dazu die Kraft fehlte. Bevor er die Möglichkeit hatte, irgend etwas zu sagen, stand ich von meinem Stuhl auf und ging.
Das Wetter draußen war bedrückend: ein rauher, finsterer Tag, dunstig und hoffnungslos. Ich spürte, wie mir allmählich die Ideen ausgingen. Eine seltsame Schwäche war mir in die Glieder gekrochen, und ich mußte mich sehr zusammennehmen, um nicht ins Stolpern zu geraten. Nicht weit vom Colisseum kaufte ich mir in einem Snack ein Sandwich, hatte dann aber Schwierigkeiten, mich länger damit zu beschäftigen. Nach einigen Bissen wickelte ich es wieder ein und verstaute es für später in meinem Rucksack. Ich hatte Halsschmerzen, und mir war der Schweiß ausgebrochen. Am Columbus Circle überquerte ich die Straße, ging in den Park zurück und begann mir einen Platz zu suchen, wo ich mich hinlegen konnte. Tagsüber hatte ich noch nie geschlafen, und ohne den Schutz der Nacht kamen mir meine alten Verstecke plötzlich gefährlich vor, ungeschützt und unbrauchbar. Ich ging in nördlicher Richtung weiter und hoffte, irgendwas zu finden, bevor ich zusammenbräche. Mein Fieber stieg, eine dumpfe Erschöpfung schien an meinem Hirn zu nagen. Der Park war nahezu menschenleer. Als ich mich gerade darüber wundern wollte, fing es zu nieseln an. Wenn ich nicht solche Halsschmerzen gehabt hätte, hätte ich jetzt vermutlich gelacht. Und dann mußte ich mich plötzlich übergeben. Gemüsesuppe und Sandwichbrocken schossen mir aus dem Mund und platschten vor mir auf den Boden. Auf meine Knie gestützt, starrte ich ins Gras und wartete, daß der Krampf sich löste. Das ist die Einsamkeit des Menschen, sagte ich mir. So ist es, wenn man niemanden hat. Ich war jedoch nicht mehr wütend, und ich dachte diese Worte mit einer brutalen Ehrlichkeit, wie ein objektiver Beobachter. Nach zwei oder drei Minuten kam mir der ganze Zwischenfall wie etwas vor, das bereits vor Monaten stattgefunden hatte. Ich ging weiter, wollte meine Suche nicht aufgeben. Wäre mir jetzt jemand begegnet, hätte ich ihn wahrscheinlich gebeten, mich in ein Krankenhaus zu bringen. Aber es kam niemand. Ich weiß nicht, wie lange ich bis dorthin gebraucht habe, aber irgendwann stieß ich auf eine Gruppe großer Felsen, die von Laubwerk und Bäumen überwachsen waren. Die Felsen bildeten eine natürliche Höhle, und ohne weiter darüber nachzudenken, kroch ich in diese seichte Vertiefung, nahm ein
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