Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
mehr auf das geachtet, was sich um mich abspielte, dann hätte ich mich vielleicht darüber gewundert, besonders nachdem Zimmer mir die Geschichte meiner Rettung erzählt hatte. Immerhin war es doch ziemlich seltsam, daß jemand, der drei Wochen lang Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatte, um mich zu finden, sich auf einmal, nachdem ich gefunden war, so zurückhaltend verhielt. Aber genauso war es, und ich machte mir keine Gedanken darum. Ich war damals noch zu schwach, um mir über irgend etwas Gedanken zu machen, und nahm ihr Kommen und Gehen einfach so hin, wie Naturereignisse, ebenso gewaltig und unausweichlich wie das Wetter, das Kreisen der Planeten oder das Licht, das jeden Nachmittag um drei durchs Fenster fiel.
    Es war Zimmer, der sich während meiner Genesung um mich kümmerte. Seine neue Wohnung lag im ersten Stock eines alten Mietshauses im West Village, ein schmuddeliges Loch, vollgestopft mit Büchern und Schallplatten: zwei kleine Zimmer ohne Zwischentür, eine primitive Küche, ein fensterloses Badezimmer. Ich konnte mir denken, was für ein Opfer es für ihn bedeutete, mich bei sich unterzubringen, aber immer wenn ich ihm dafür danken wollte, winkte er ab und tat, als spiele das keine Rolle. Er verpflegte mich aus seiner eigenen Tasche, ließ mich in seinem Bett schlafen, ohne etwas dafür zu verlangen. Gleichzeitig war er wütend auf mich und gab mir unverblümt zu verstehen, wie sehr ihn mein Verhalten anwiderte. Ich hätte mich nicht nur wie ein Schwachsinniger aufgeführt, sondern mich dabei auch fast noch umgebracht. So was sei bei einem Menschen von meiner Intelligenz einfach unverzeihlich, sagte er. Es sei grotesk, idiotisch, bescheuert. Warum ich mich nicht an ihn gewendet hätte, wenn ich in Schwierigkeiten gewesen sei? Ob ich nicht wüßte, daß er alles für mich tun würde? Ich erwiderte auf diese Attacken nur sehr wenig. Mir war klar, daß ich Zimmer verletzt hatte, und ich schämte mich, ihm so etwas angetan zu haben. Je mehr Zeit verging, desto schwerer fiel es mir zu begreifen, was für eine Katastrophe ich angerichtet hatte. Ich hatte geglaubt, mutig zu handeln, doch jetzt stellte sich heraus, daß ich lediglich die erbärmlichste Form der Feigheit an den Tag gelegt hatte: in meiner Verachtung für die Welt zu schwelgen und mich zu weigern, den Dingen offen ins Gesicht zu sehen. Ich empfand jetzt nur noch Reue, ein lähmendes Gefühl meiner Dummheit. So vergingen die Tage in Zimmers Wohnung, und als ich langsam wieder zu mir fand, gelangte ich zu der Erkenntnis, daß ich mein Leben noch einmal ganz von vorn beginnen mußte. Ich wollte für meine Fehler büßen und mich den Leuten erkenntlich zeigen, die sich noch um mich sorgten. Ich hatte genug von mir, genug von meinen Gedanken, genug von den Grübeleien über mein Schicksal. Vor allem aber hatte ich das Bedürfnis, mich zu reinigen, für meine exzessive Beschäftigung mit mir selbst Buße zu tun. Ich beschloß, meine totale Ichbezogenheit mit einem Zustand totaler Selbstlosigkeit zu vertauschen. Bevor ich an mich selbst dächte, würde ich an andere denken und bewußt danach streben, den von mir angerichteten Schaden wiedergutzumachen, und vielleicht gelänge es mir auf diese Weise allmählich, etwas in der Welt zu leisten. Das war natürlich ein unmögliches Programm, aber ich klammerte mich mit schier religiösem Fanatismus daran. Ich wollte zu einem Heiligen werden, zu einem gottlosen Heiligen, der durch die Welt zog und gute Werke tat. So absurd mir das auch heute vorkommt, ich glaube, genau das war es, was ich wollte. Ich brauchte unbedingt irgendeine Gewißheit, und ich war bereit, alles dafür zu tun, sie zu finden.
    Zuvor stand jedoch noch ein Hindernis im Weg. Mit etwas Glück schaffte ich es zwar am Ende, ihm auszuweichen, aber nur um Haaresbreite. Ein paar Tage nachdem meine Temperatur sich wieder normalisiert hatte, stieg ich eines Abends aus dem Bett, um auf die Toilette zu gehen. Zimmer arbeitete nebenan an seinem Schreibtisch. Als ich wieder zum Bett zurückschlurfte, sah ich Onkel Victors Klarinettenkasten auf dem Boden liegen. Seit meiner Rettung hatte ich nicht mehr daran gedacht, und jetzt sah ich entsetzt, in welch erbärmlichem Zustand der Kasten war. Der schwarze Lederüberzug war halb weg, der Rest rissig und wellig aufgeworfen. Das Gewitter im Central Park war zuviel gewesen, und ich fragte mich, ob das Wasser durchgesickert sei und auch das Instrument beschädigt habe. Auf das Schlimmste gefaßt, hob

Weitere Kostenlose Bücher