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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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ich den Kasten auf und nahm ihn mit mir ins Bett. Ich ließ die Schlösser aufschnappen und klappte ihn auf, doch ehe ich dazu kam, die Klarinette zu untersuchen, segelte ein weißer Umschlag auf den Boden, und da wurde mir gleich klar, daß meine Schwierigkeiten jetzt erst richtig losgingen. Es war der Brief von der Musterungsbehörde. Ich hatte nicht nur meinen Termin vergessen, sondern auch, daß ich diesen Brief überhaupt erhalten hatte. In diesem einen Augenblick kam alles auf einmal wieder zurück. Wahrscheinlich bin ich bereits ein gesuchter Verbrecher, dachte ich. Wenn ich die Musterung versäumt habe, hat die Regierung schon Haftbefehl gegen mich erlassen - und das bedeutete ein saftiges Bußgeld und andere Konsequenzen, die ich mir nicht einmal vorstellen konnte. Ich riß den Umschlag auf, und aus einer Leerstelle in dem Formbrief sprang mir der Termin entgegen: 16. September. Das sagte mir gar nichts, da ich nicht wußte, welcher Tag heute war. Ich hatte es mir abgewöhnt, auf Uhren und Kalender zu sehen, und konnte das Datum nicht einmal schätzen.
    «Eine kleine Frage», sagte ich zu Zimmer, der noch immer über seiner Arbeit saß. «Weißt du zufällig, welchen Tag wir heute haben?»
    «Montag», sagte er, ohne aufzusehen.
    «Ich meine das Datum. Monat und Tag. Das Jahr brauchst du mir nicht zu nennen. Das weiß ich ziemlich genau.»
    «15. September», sagte er, noch immer ohne aufzusehen.
    «15. September?» sagte ich. «Bist du sicher?»
    «Natürlich bin ich sicher. Völlig ohne jeden Zweifel.»
    Ich sank auf das Kopfkissen zurück und schloß die Augen. «Erstaunlich», murmelte ich. «Absolut erstaunlich.»
    Endlich wandte sich Zimmer um und warf mir einen verblüfften Blick zu. «Was soll daran denn erstaunlich sein?»
    «Weil das heißt, daß ich kein Verbrecher bin.»
    «Wie bitte?»
    «Weil das heißt, daß ich kein Verbrecher bin.»
    «Ich bin nicht schwerhörig. Aber durch Wiederholen wird es auch nicht verständlicher.»
    Ich hielt den Brief hoch und schwenkte ihn. «Wenn du dir das mal ansiehst», sagte ich, «wirst du verstehen, was ich meine.»
    Ich sollte mich am nächsten Morgen in der Whitehall Street melden. Zimmer hatte seine Musterung bereits im Juli hinter sich gebracht (er war wegen Asthma zurückgestellt worden), und in den nächsten zwei oder drei Stunden besprachen wir, was da auf mich zukam. Es war im wesentlichen eine Diskussion, wie Millionen junger Amerikaner sie in jenen Jahren führten. Im Gegensatz zur großen Mehrheit von ihnen hatte ich jedoch nichts getan, um mich auf den Augenblick der Wahrheit vorzubereiten. Ich hatte mir kein ärztliches Attest besorgt, ich hatte mich nicht mit Drogen vollgepumpt, um meine motorischen Reaktionen zu beeinträchtigen, ich hatte keine Serie von Nervenzusammenbrüchen inszeniert, um irgendeine psychische Störung glaubhaft zu machen. Ich hatte immer gewußt, daß ich nie zur Army gehen würde, doch nachdem dieser Entschluß einmal feststand, hatte ich kaum noch über das Thema nachgedacht. Wie bei so vielen anderen Dingen war meine Trägheit stärker als ich gewesen, und ich hatte das Problem beharrlich vor mir hergeschoben. Zimmer war entsetzt, doch selbst er mußte zugeben, daß es jetzt zu spät sei, noch irgend etwas dagegen zu unternehmen. Ich würde die Musterung entweder bestehen oder nicht, und wenn ich sie bestand, hatte ich nur zwei Möglichkeiten: das Land verlassen oder ins Gefängnis gehen. Zimmer erzählte mir einige Geschichten von Leuten, die ins Ausland gegangen waren, nach Kanada, Frankreich, Schweden, aber das reizte mich nicht sonderlich. Ich sagte, zum Reisen hätte ich weder das Geld noch die Lust.
    «Also wirst du doch ein Verbrecher», sagte er.
    «Ein Häftling», korrigierte ich ihn. «Ein Gesinnungshäftling. Das ist ein Unterschied.»
    Ich befand mich noch im ersten Erholungsstadium, und als ich am nächsten Morgen aufstand, um mich anzuziehen - in Zimmers Sachen, die mir etliche Nummern zu klein waren -, stellte ich fest, daß ich nicht in der Verfassung war, irgendwo hinzugehen. Ich war völlig ausgelaugt, und schon der Versuch, durchs Zimmer zu gehen, erforderte meine ganze Energie und Konzentration. Bis dahin hatte ich das Bett allenfalls mal für ein oder zwei Minuten verlassen, um mich schwächlich zur Toilette und zurück zu tasten. Wenn Zimmer mich nicht gestützt hätte, würde ich es nicht mal bis zur Tür geschafft haben. Er hielt mich buchstäblich auf den Füßen, schlang beide Arme um mich

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