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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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mir mit einer Geste, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Darauf verschwand sie, und ich war mit Effing allein und wartete, daß er das Schweigen brechen würde.
    Es dauerte lange, aber als seine Stimme dann schließlich ertönte, drang sie erstaunlich kraftvoll durch den Raum. Es schien unmöglich, daß sein Körper solche Töne erzeugen konnte. Die Worte prasselten mit ungestümer, heiserer Energie aus seiner Luftröhre, es war, als wäre plötzlich ein Radio eingeschaltet worden, als hörte man einen jener fernen Sender, wie man sie manchmal mitten in der Nacht empfangen kann. Es kam völlig unerwartet. Eine zufällige Konstellation von Elektronen übertrug seine Stimme aus tausend Meilen Entfernung zu mir, und ihre Klarheit betäubte mir die Ohren. Einen Augenblick lang fragte ich mich allen Ernstes, ob sich nicht irgendwo im Zimmer ein Bauchredner versteckt halte.
    «Emmett Fogg», sagte der alte Mann, das heißt, er spie die Worte voller Verachtung aus. «Was ist das denn für ein weibischer Name?»
    «M. S. Fogg», gab ich zurück. «Das M steht für Marco, das S für Stanley.»
    «Das ist auch nicht besser. Höchstens noch schlechter. Was wollen Sie dagegen unternehmen, Junge?»
    «Ich werde nichts dagegen unternehmen. Mein Name und ich haben viel miteinander durchgemacht, und ich habe ihn im Lauf der Jahre ziemlich liebgewonnen.»
    Effing schnaubte, ein verstocktes Lachen, womit das Thema ein für allemal abgehakt zu sein schien. Unmittelbar danach richtete er sich in seinem Stuhl auf. Es war bemerkenswert, wie schnell das seine Erscheinung veränderte. Jetzt war er keine komatöse Halbleiche im Dämmerschlaf mehr, sondern ganz Energie und Aufmerksamkeit, eine brodelnde kleine Masse wiederaufgelebter Kraft. Wie ich später herausfand, war dies der wahre Effing, falls man das Wort wahr in Zusammenhang mit ihm gebrauchen kann. Sein Charakter beruhte so sehr auf Falschheit und Betrug, daß es kaum zu erkennen war, wenn er einmal die Wahrheit sagte. Er liebte es, die Welt mit seinen plötzlichen Experimenten und Einfallen an der Nase herumzuführen, und seine Lieblingsnummer bestand darin, den Toten zu spielen.
    Er beugte sich in seinem Stuhl vor, als wollte er mir damit sagen, nun gehe das Gespräch erst richtig los. Sein Blick war trotz der schwarzen Augenklappen direkt auf mich gerichtet. «Antworten Sie mir, Mr. Fogg», sagte er. «Haben Sie Sehvermögen?»
    «Früher glaubte ich das, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.»
    «Wenn Sie etwas vor sich sehen, können Sie es dann erkennen?»
    «Im Prinzip schon. Aber manchmal kann es ziemlich schwierig werden.»
    «Zum Beispiel.»
    «Zum Beispiel fällt es mir auf der Straße manchmal schwer, Männer von Frauen zu unterscheiden. Heute haben so viele Leute lange Haare, daß ein kurzer Blick nicht immer ausreicht. Besonders wenn man es mit einem femininen Mann oder einer maskulinen Frau zu tun hat. Da können die Merkmale ziemlich durcheinandergeraten.»
    «Und wenn Sie mich ansehen, was fallt Ihnen dann ein?»
    «Daß ich einen Mann im Rollstuhl sehe.»
    «Einen alten Mann?»
    «Ja, einen alten Mann.»
    «Einen sehr alten Mann?»
    «Ja, einen sehr alten Mann.»
    «Ist Ihnen irgend etwas Besonderes an mir aufgefallen, Junge?»
    «Ihre Augenklappen, nehme ich an. Und daß anscheinend Ihre Beine gelähmt sind.»
    «Ja, ja, meine Gebrechen. Die springen einem richtig ins Auge, nicht?»
    «Gewissermaßen, ja.»
    «Haben Sie aus den Augenklappen irgendwelche Rückschlüsse gezogen?»
    «Keine eindeutigen. Mein erster Gedanke war, daß Sie blind seien, aber das folgt eigentlich nicht daraus. Wenn jemand nicht sehen kann, warum sollte er dann Vorkehrungen treffen, daß er nichts sehen kann? Das wäre ja sinnlos. Ich denke daher an andere Möglichkeiten. Vielleicht verbergen die Klappen etwas Schlimmeres als Blindheit. Zum Beispiel eine schreckliche Verunstaltung. Oder vielleicht hatten Sie kürzlich eine Operation und müssen die Klappen aus medizinischen Gründen tragen. Andererseits könnte es auch sein, daß Sie nur teilweise blind sind und starkes Licht Ihre Augen reizt. Oder es macht Ihnen einfach Spaß, Augenklappen zu tragen, weil Sie das für attraktiv halten. Es gibt beliebig viele Antworten auf Ihre Frage. Im Augenblick habe ich nicht genügend Informationen, um die richtige Antwort zu nennen. Letzten Endes weiß ich nur eins genau, nämlich daß Sie schwarze Augenklappen tragen. Ich kann feststellen, daß sie da sind, aber ich weiß nicht, warum sie da

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