Mond über Manhattan
sagte Effing. «Pavel sprach sechs oder sieben Sprachen fließend. Er war ein gebildeter Mann, ein echter Gelehrter. Als ich ihn zweiunddreißig kennenlernte, arbeitete er als Tellerwäscher in einem Restaurant und wohnte in einem Dienstmädchenzimmer unterm Dach, ohne Heizung und fließend Wasser. War einer von den Weißrussen, die während des Bürgerkrieges nach Paris gekommen waren. Verloren alles, was sie hatten. Ich nahm ihn bei mir auf, und er half mir dafür. Das ging so siebenunddreißig Jahre, Fogg, und ich bedaure nur, daß er nicht nach mir gestorben ist. Der Mann war der einzige echte Freund, den ich je gehabt habe.»
Mit einemmal begannen Effings Lippen zu zittern, als wäre er kurz davor, in Tränen auszubrechen. Trotz allem, was vorher vorgefallen war, mußte ich jetzt Mitleid mit ihm empfinden.
Am dritten Tag kam wieder die Sonne heraus. Effing machte seinen gewöhnlichen Vormittagsschlaf, doch um zehn Uhr schob Mrs. Hume ihn aus dem Schlafzimmer, bereit zu unserem ersten Spaziergang: Er war in dicke Wollsachen gehüllt und schwenkte einen Stock in der Rechten. Was man sonst auch von Effing sagen mochte, leidenschaftslos war er nicht. Er freute sich auf den Ausflug durch die Straßen der Umgebung mit dem ganzen Enthusiasmus eines Forschers, der eine Expedition in die Arktis antritt. Zahllose Vorbereitungen waren zu treffen: Temperatur und Windgeschwindigkeit prüfen, im voraus eine Route festlegen, dafür sorgen, daß seine Kleidung dem Wetter entsprach. War es kalt, mummte er sich in eine Unmenge überflüssiger Schutzhüllen: Pullover und Schals, einen riesigen Paletot, der ihm bis auf die Knöchel reichte, eine Decke, Handschuhe und eine russische Pelzmütze mit Ohrenwärmern. An besonders kühlen Tagen (wenn das Thermometer unter den Gefrierpunkt fiel) trug er zusätzlich eine Skimaske. All diese Sachen begruben ihn regelrecht unter ihrem Gewicht, ließen ihn noch mickriger und grotesker erscheinen als gewöhnlich, aber Effing konnte körperliches Unbehagen nicht ertragen, und da es ihm nichts ausmachte, Aufsehen zu erregen, trieb er es mit der Extravaganz seiner Kleidung bis zum Äußersten. Am Tag unseres ersten Spaziergangs war es draußen tatsächlich recht frisch, und als wir uns zum Gehen bereitmachten, fragte er mich, ob ich einen Mantel hätte. Nein, sagte ich, ich hätte nur meine Lederjacke. Die würde nicht reichen, sagte er, die würde ganz und gar nicht reichen. «Ich kann nicht zulassen, daß Sie sich auf halbem Weg den Arsch abfrieren», erklärte er. «Sie brauchen etwas, womit Sie bis zum Ende durchhalten, Fogg.» Mrs. Hume erhielt Anweisung, den Mantel des verstorbenen Pavel Shum zu holen. Es war ein lädierter alter Tweedmantel, der mir ganz gut paßte: bräunlicher Grundton, mit roten und grünen
Einsprengseln. Trotz meiner Einwände bestand Effing darauf, daß ich ihn behalten sollte, und ich konnte kaum etwas dagegen sagen, ohne einen Streit zu provozieren. So erbte ich den Mantel meines Vorgängers. Ich fand es unheimlich, damit herumzulaufen; immerhin hatte er einem Mann gehört, der jetzt tot war, aber ich trug ihn dann doch bei all unseren Ausflügen bis zum Ende des Winters. Um meine Schuldgefühle zu beschwichtigen, versuchte ich ihn mir als eine Uniform vorzustellen, die zu dem Job dazugehörte, aber das half auch nicht viel. Wann immer ich ihn anzog, hatte ich das unvermeidliche Gefühl, in den Körper eines Toten zu schlüpfen, mich in den Geist von Pavel Shum zu verwandeln.
Die Handhabung des Rollstuhls hatte ich bald heraus. Am ersten Tag holperte es noch ein bißchen, doch nachdem ich einmal gelernt hatte, den Stuhl beim Überwinden von Bordsteinkanten im richtigen Winkel zu kippen, ging die Sache ziemlich glatt. Effing war außerordentlich leicht, und es strengte meine Arme kaum an, ihn herumzuschieben. Dafür bereiteten unsere Ausflüge mir andere Schwierigkeiten. Sobald wir nach draußen kamen, begann Effing stets mit seinem Stock in der Luft herumzufuchteln und fragte mich mit lauter Stimme, worauf er damit zeigte. Sagte ich es ihm, bestand er sogleich darauf, daß ich es ihm beschreiben sollte. Mülltonnen, Schaufenster, Haustüren: er verlangte von alldem präzise Schilderungen, und wenn ich ihm nicht schnell genug die richtigen Worte fand, explodierte er vor Zorn. «Verdammt noch mal, Junge», sagte er, «Sie haben doch Augen im Kopf! Ich kann kein bißchen sehen, und Sie labern da irgendwelchen Schwachsinn von wegen und
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