Mondberge - Ein Afrika-Thriller
Ohren. Als er den Hang hinabsah, entdeckte er im Nebelschleier die Balindi. Sie saßen vollkommen ruhig nebeneinander in einer langen Reihe am Wasser und blickten zu ihm auf. Ein kalter Schauer lief Kambere den Rücken herunter. Was geschah hier? Nach und nach wandten sich die Balindi ab und verschwanden lautlos im Wald. Kambere stellte fest, dass Mbusa in die gleiche Richtung schaute.
»Das habe ich noch nie gesehen«, sagte der. »Sie wollten uns etwas mitteilen. Aber ich weiß nicht was.«
Kambere sah wieder zum anderen Ufer hinüber. Er hatte die Balindi verstanden. Er hatte eine Aufgabe und er musste herausbekommen, wie sie lautete. Kambere wusste, dass er mit niemandem darüber sprechen durfte. Noch nicht.
27
Ruwenzori, 15. Juni
Als Tom die Augen aufschlug, ging gerade die Sonne über den Bergen auf. In einem satten Orange bahnten sich ihre wärmenden Strahlen einen Weg zwischen den gewaltigen Erika-Bäumen hindurch, die hier schon wieder vereinzelt wuchsen. Dick schlang sich das von Feuchtigkeit schwere Moos um die Äste der Urwaldriesen. In der Ferne stürzten Wasserfälle in die Tiefe. Sie hatten die kargen Hochebenen hinter sich gelassen. Obwohl es in dieser Nacht nicht geregnet hatte, spürte Tom die Nässe bis in die Knochen. Noch nie hatte er sich so alt gefühlt wie an diesem Morgen.
Je länger er nachdachte, desto verworrener kam Tom die Geschichte vor, deren Teil er geworden war. Sie waren entführt worden, saßen irgendwo in diesem abgelegenen Gebirge mitten in Afrika fest, er fror, hatte Hunger und Durst. Und das Schlimmste: Er sah keine Möglichkeit, aus dieser Situation herauszukommen.
Andrea lag in ihre schwarze Daunenjacke eingehüllt neben ihm und blinzelte ihn an. Auch die anderen wachten nach und nach auf. Tom ging durch den Kopf, dass sie Manfred nie wiedersehen würden. Die meisten der Träger wohl auch nicht. Was mit Kathrin geschehen war, dafür hatte er überhaupt keine Erklärung. Die Rebellen hatten anscheinend nichts mit ihrem Verschwinden zu tun. Und Peter? Er war vermutlich einfach abgehauen. Er war Ugander und hatte bestimmt einen Preis aushandeln können, um sich freizukaufen. Auch bei ihnen würde es wohl auf eine Freilassung gegen ein Lösegeld hinauslaufen. Doch dafür musste dieser Paul erst einmal Bedingungen stellen.
Zwei der Kindersoldaten traten auf die Gruppe zu, bauten sich mit ihren Kalaschnikows vor den Deutschen auf und grinsten. Sie standen erkennbar unter dem Einfluss irgendwelcher Drogen, die sie nicht gerade zu zarten Lämmchen machten. Tom wandte den Kopf angewidert ab. Ein falsches Wort, eine Handbewegung, eine zu laut erhobene Stimme – und die Situation konnte eskalieren. Einer der Jungen trat auf Andrea zu, zückte ein langes Messer und richtete die Spitze drohend auf sie. Toms Augen flackerten, seine Muskeln spannten sich an, doch er blieb sitzen, abwartend. Im Gesicht des Jungen konnte er einen Moment lang die Verwirrung darüber ablesen, dass Andrea nicht zurückzuckte. Dann bückte er sich und schnitt mit einer schnellen Handbewegung das Seil von ihren Handgelenken.
Aufatmend rieb sich Andrea die Unterarme. Sie nickte dem Jungen zu und bedankte sich. Er lächelte mit den Augen zurück, ohne die Mundwinkel zu bewegen.
»Wie heißt du?«, fragte sie ihn, bevor er weggehen konnte.
Er stockte kurz, blickte sich um und flüsterte schnell: »Hitimana.«
»Hallo Hitimana«, flüsterte Andrea, fast nicht hörbar. »Ich bin Andrea. Schön, dich kennen zu lernen.«
Für einen Sekundenbruchteil huschte ein Lächeln über seine Lippen, dann wandte er sich ab, um auch Tom und den anderen die Stricke abzunehmen. Die Fasern hatten sich tief ins Fleisch gegraben, und das Blut begann erst allmählich wieder normal zu zirkulieren. Als Hitimana fertig war, stellte er sich zu dem anderen Jungen. Dieser war kleiner und jünger als sein Freund, nur seine Gesichtszüge waren deutlich härter. Trotzdem wagte Andrea einen weiteren Versuch:
»Hitimana!«, hauchte sie.
Er schaute sie fragend an.
»Wie heißt dein Freund?«
Hitimana sah neben sich, dann flüsterte er: »Mugiraneza.«
»Hallo Mugiraneza.«
Auch dieser Junge nickte kaum merklich mit dem Kopf.
In diesem Moment marschierte Paul über den Platz. Er wirkte ausgeruht und pfiff ein Lied, als er zu seinen Gefangenen trat. In der Hand hielt er eine dampfende Tasse Tee. Die lange Narbe in seinem Gesicht glänzte im Licht des Sonnenaufgangs.
»Haben die Damen und Herren gut genächtigt?«, rief er ihnen zu
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