Mondberge - Ein Afrika-Thriller
meinem Vater oder so ...« Nachdenklich betrachtete Mbusa die Berge, die eine langgestreckte Wand um das Tal bildeten. »Mein Vater kommt von der anderen Seite der Berge. Er war noch sehr klein, als die Familien ihr Dorf verließen, um hier zu leben. Er hat keine Erinnerung an die Zeit auf der anderen Seite. Meine Großeltern sind damals vertrieben worden. Soldaten kamen in das Dorf und haben alle getötet, die versucht haben zu fliehen. Nur meine Großeltern und ein paar andere Familien konnten in der Nacht entkommen.«
»Was ist mit den anderen passiert?«
»Das weiß keiner. Mein Großvater hat mir davon erzählt, dass sie noch stundenlang Schreie gehört haben. Damals haben sie beschlossen, nie wieder dorthin zurückzukehren, wo diese schrecklichen Dinge geschehen sind.«
Kambere hörte diese Geschichte zum ersten Mal. Er hatte sich zwar schon oft gefragt, warum er nicht über den Pass gehen durfte, aber wenn er das Thema angesprochen hatte, hatte es immer geheißen, er sei noch viel zu jung, um das zu verstehen.
»Ich möchte auf die andere Seite gehen, um zu sehen, was die Menschen dort tun. Wie es dort aussieht.«
Er äugte sehnsüchtig in Richtung des Passes. Doch Mbusas Stimme wurde schärfer.
»Wenn du dorthin gehst, kannst du niemals mehr zurückkehren. Willst du das?« Die Miene des Lehrers war plötzlich angespannt.
»Ich könnte doch einfach mal mitkommen, wenn wir Handel mit Menschen auf der anderen Seite treiben.«
»Die Männer werden von den Ältesten ausgewählt. Das kannst du nicht für dich bestimmen. Außerdem begegnen sie den anderen Menschen gar nicht. Es gibt einen Übergabeort, an dem unsere Leute die Felle ablegen und mitnehmen, was die anderen da gelassen haben.«
Mbusa war mit der Flöte fertig und reichte sie seinem Schüler. Der drehte sie vorsichtig in der Hand. In den nächsten Tagen würde er lernen, auf ihr zu spielen – auch ein Vorrecht der beschnittenen Jungen. Mbusa versprach ihm, noch heute mit ihm zu üben. Sie erhoben sich, um in das Lager zurückzukehren.
»Warum darf ich nicht zurückkommen, wenn ich auf die andere Seite gegangen bin?« Mbusa nickte. »Es gibt doch sicher viele, die interessieren würde, was ich von dort zu erzählen habe.«
»Wir wollen nicht, dass irgendjemand außerhalb unseres Tals von diesem Dorf weiß.«
»Aber die Leute, mit denen ihr handelt, die wissen es doch.«
»Nein, sie waren nie hier. Der Platz zum Tauschen ist eine Tagesreise weit entfernt. Niemals ist einem von uns jemand von außen gefolgt. Außerdem liegt immer eine Wolkendecke über unserem Tal, man kann es also von oben gar nicht sehen. Uns gibt es für die Menschen da draußen einfach nicht.«
»Hat denn noch nie jemand versucht, fortzugehen?« Schweigen breitete sich aus, während sie durch den beinahe stillen Wald marschierten. Leichter Regen setzte ein. Als Mbusa nach einer Weile immer noch nicht geantwortet hatte, wandte sich Kambere zu ihm um. Ein sehr nachdenkliches Gesicht stand vor ihm.
»Doch. Ein Mal.« Mbusas Stimme klang traurig.
»Hast du ihn gekannt?«
»Es war mein Bruder.« Er stockte einen Moment, als müsste er sich erst überlegen, ob er weitererzählen sollte. »Er war zwei Jahre älter als ich, und wir sind zur gleichen Zeit beschnitten worden. Doch dann hat er Fragen gestellt, viele Fragen. So wie du ...« Mbusa blieb stehen und sah Kambere sehr ernst an.
»Was ist mit ihm geschehen?«, fragte Kambere.
»Die Fragen waren der Anfang. Auch er wollte wissen, was auf der anderen Seite ist. Und er gab sich nicht damit zufrieden, keine Antworten zu bekommen. Nach der Beschneidung sind wir in die Berge gegangen. Du weißt ja, dass auch wir nach deiner Zeremonie in Richtung Sonnenuntergang gehen und dann so lange im Wald bleiben, bis deine Wunde verheilt ist. Erst dann kommen wir wieder zurück. Als wir fort waren, erzählte mir mein Bruder eines Nachts, dass er nicht mit ins Dorf zurückgehen würde. Er wollte wissen, wie die anderen Menschen lebten.« Wieder unterbrach sich Mbusa, während er Kambere bedeutete, ihm zu folgen. Sie stiegen einen schmalen Pfad hinauf, der oberhalb des Lagers vorbeiführte.
»Unser Lehrer hat uns belauscht. Am nächsten Tag hat er meinen Bruder zur Rede gestellt. Ich habe den Streit gehört. Unser Lehrer hat sehr deutlich gesagt, dass er gegen die Gesetze des Dorfes verstößt, wenn er weiter geht als erlaubt. Und dass er dann nicht zurückkehren darf. Mein Bruder hat nichts dazu gesagt. Aber mir war klar, dass sein
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