Mondglanz
erledigt hat; falls ich sie brauche, würde ich sie wecken. Diese »Erlaubnis« erspart mir, Constance erklären zu müssen, dass ich sie nicht immer und überall als Zeugin dabeihaben will. Irgendwie macht mir das ein schlechtes Gewissen.
Ich kann sie nirgends entdecken, aber das beunruhigt mich nicht allzu sehr, weil ich viel zu gespannt bin auf das, was Vel zu sagen hat. Im Gegenteil. Wäre sie hier, um alles mit anzuhören, würde es sich Velith womöglich noch einmal überlegen und vielleicht doch nicht reden.
Ich lege mich aufs Bett, ohne meine Robe abzulegen.
Vel steht im Halbschatten und starrt nach draußen auf die glitzernde Skyline. Ich frage mich, ob er überhaupt irgendetwas sieht außer den Geistern der Vergangenheit, die auch mich verfolgen.
»Wie Sie wissen«, beginnt er schließlich, »bin ich der Nachkomme einer Politikerin namens Nok. Was ich Ihnen nicht erzählt habe, ist, dass sie zur Zeit meiner Geburt das Amt der Großen Verwalterin innehatte. Sie erwartete große Dinge von ihren Nachkommen und erzog sie mit eiserner Klaue.«
Er verstummt, als würde er seine Erinnerungen ordnen, und ich habe das Gefühl, Velith gewährt mir einen Einblick in sein tiefstes Innerstes. Ich war ihm nicht mehr so nahe seit dem Tag, an dem wir in jener Eishöhle saßen und glaubten, es wäre unser letzter.
»Du meinst, sie hat sich nicht dafür interessiert, was du wolltest?« Ich ziehe die Knie an die Brust und betrachte ihn im schummrigen Licht.
Vels Augen reflektieren die Lichter der Stadt, wie die eines Menschen es nie tun würden, und er kommt mir seltsam fremdartig und vertraut zugleich vor. Gleich neben meinem Fenster steht ein Stuhl, und ich überlege, ob ich ihm anbieten soll, sich zu setzen. Aber ich glaube, wir kennen uns mittlerweile lange genug, dass ich ihn nicht erst bitten muss, es sich bequem zu machen.
Er bleibt stehen.
»Das Einzige, was sie interessierte, waren ihre Erwartungen«, antwortet er schließlich.
Er spricht in der Vergangenheit von ihr. »Ist sie …?«
»Tot?«, vervollständigt er den Satz. »Ja. Seit vielen Umläufen.«
»Das tut mir leid. Erzähl weiter.« Mir fällt wieder ein, wie empfindlich er auf Zwischenfragen reagiert, und ich beschließe, ihn nicht mehr zu unterbrechen.
»Ich bin aufgewachsen wie die meisten anderen auch«, fährt er fort. »Ausgebildet wurde ich in einer Schule für Mitglieder der Oberklasse, der Schwerpunkt lag auf Diplomatie und Politik. Ich wusste schon sehr früh, dass von mir erwartet wurde, in die Fußstapfen meiner Mutter zu treten. Mein Geschlecht stand dem jedoch entgegen, und außerdem hat mich nie interessiert, was man mir beizubringen versuchte. Eines Tages sah ich bei einem der Berater meiner Mutter die xanthrischen Streifen auf dem Chitinpanzer. Er hatte sie als Auszeichnung für herausragende Dienste erhalten. Ich war fasziniert, und zuerst bestärkte man mein Interesse, weil man glaubte, dass ich mir ebenfalls solche Auszeichnungen verdienen wollte. Man hielt mich für … ehrgeizig.«
Einen Moment lang verfällt er in melancholisches Schweigen, als wären die Erinnerungen, die er im Geist durchwandert, eine Wüste mit nichts als Staub und Knochen darin.
»Aber was dich daran fasziniert hat, war das Kunsthandwerk«, sage ich leise. »Die Farben und Muster, die Linien und Formen.«
Velith neigt den Kopf. »Nok war entsetzt, als sie die Wahrheit erfuhr. Derlei Dinge bringen einer Familie keinen Ruhm und keine Ehre. Mit der Hand zu arbeiten, das gehört zur Unterklasse, zu jenen, die intellektuell nicht zu Höherem fähig sind. Hätte ich diesen Weg eingeschlagen, wäre das für meine Mutter genauso schändlich gewesen, als hätte sie Nachkommen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen in die Welt gesetzt. Körperkunst nur um der Schönheit willen ist auf Ithiss-Tor verpönt.«
Ich runzle die Stirn. »Bei uns ist das anders. Auf Gehenna gibt es einen ganzen Industriezweig, der nichts anderes tut, als Menschen künstlerisch zu verschönern.«
»Was auf Ithiss-Tor nur ein weiteres Argument dagegen ist«, erwidert Vel. »Die menschliche Kultur gilt als primitiv, gerade mal ein paar Jahrtausende lang dem Stadium der Höhlenmalerei entwachsen.«
Das ist nicht fair. Aber ich weiß, dass Velith diese Meinung nicht teilt, sonst wären wir nie Freunde geworden.
»Und was ist dann passiert?«
»Ich ging meiner Neigung heimlich nach. Ließ mir von unserem Hauskünstler beibringen, wie man die Säuregrundierung anmischt, wie die
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