Mondherz
über die Linien in Veronikas Handfläche. Ihr Griff war warm und überraschend kräftig, und Veronika widerstand nur knapp dem Impuls ihrer Wölfin, sich loszureißen. Die anderen Roma hatten sich inzwischen um sie geschart. Eine erwartungsvolle Stille hing in der Luft, die sie nervös werden ließ. Misstrauisch schaute sie sich um. Was ging hier eigentlich vor? Plötzlich stieß die Greisin einen Ruf aus, der so spröde klang wie brechende Zweige, und ein Raunen ging durch die Reihen der Roma.
»Was hat sie gesagt?«, fragte Veronika.
Solana blickte sie mit aufgerissenen Augen an. »Wolfsfrau«, flüsterte sie.
Der Schreck über dieses Wort löschte jeden Gedanken aus. Veronikas Wolfsblut drängte mit der Wucht einer Springflut nach vorne. Ein heftiger Ruck, die Greisin ließ sie los, und sie war frei. Ihre Lippen schoben sich nach oben und zeigten ihre Zähne. Ihr Blick wurde so scharf, als blicke sie durch ein Brennglas. Die Menschen wichen zurück, als sich ihre Augen dunkel verfärbten. Ein tiefes Grollen kam aus ihrer Kehle.
»Veronika!« Solanas Stimme klang gedämpft durch den Schleier der Verwandlung. »Beruhige dich. Wir sind nicht deine Feinde.«
Veronika fuhr zu ihr herum. »Was wisst ihr?«, zischte sie. Berauschend stieg ihr der Geruch von Solanas Angst in die Nase.
»Wir wissen, woher du kommst und was du bist.« Die Stimme der jungen Zigeunerin zitterte. »Viktor hat uns zu dir geschickt.«
Viktor! Gábors Lehrer, der Werwolfälteste, der in der fernen Walachei in einer Höhle lebte.
Die Zigeuner dienen ihm,
klangen Miklos’ Worte plötzlich wieder in ihrem Kopf.
»Wieso hat er euch geschickt?«, fauchte sie. Sie kämpfte gegen die Wölfin, aber sie ließ sich nur langsam zurückdrängen. Sie atmete mehrmals tief durch, fühlte, wie ihre Augen wieder menschlich wurden. Ihre Hände, die zu Krallen geformt waren, entspannten sich allmählich.
Solana war unter ihrer braunen Haut bleich, und auch die anderen Zigeuner sahen blass aus. Der Geruch ihrer Furcht, der ihre Wölfin noch angestachelt hatte, beschämte Veronika plötzlich. Nur die alte Frau schien ganz gelassen zu sein. Sie hielt aufmerksam den Kopf in ihre Richtung gedreht, als lausche sie.
Unwillkürlich suchte Veronika nach den beiden Männern in der Runde. Einer von ihnen musste der Anführer der Roma sein, vielleicht jener, der die anderen um einen Kopf überragte? Doch zu ihrer Überraschung senkte er den Blick, als sie ihn ansah, und Solana war es, die wieder das Wort ergriff.
In einem schnellen Singsang redete sie auf die anderen ein. Zustimmung und Respekt konnte Veronika in den Gesichtern der Menschen lesen, als sie antworteten, und dann drehte sich Solana wieder zu ihr um.
»Komm mit mir«, sagte sie, »ich werde dir alles erzählen.«
Am Rande des Lagers ließen sie sich nieder, und Solana fächerte ihren bunten Rock wie eine Decke unter ihr aus. Veronika war neugierig, doch das soeben Erlebte hatte sie zu sehr verunsichert, um das Gespräch zu beginnen.
»Ich muss mich bei dir entschuldigen«, sagte Solana endlich. »Es war nicht recht, dir nicht gleich die Wahrheit zu sagen. Doch meine Großmutter sollte dich erst prüfen, damit ich mir sicher sein konnte, wen ich vor mir hatte.«
Veronika nickte nur. »Ihr dient also Viktor?«, fragte sie. »Und er hat euch von den Werwölfen erzählt?«
»Seit es unser Volk gibt, wissen wir von euch«, erklärte Solana. »Und manche von uns haben die Gabe, euch zu erkennen, so wie meine Großmutter. Sie ist die
Phuri Dai,
die weise Frau unserer Familie. Sie kennt Viktor schon seit ihrer Jugend, als er damals ein Bündnis mit den Roma geschlossen hat.« Solana gluckste plötzlich. »Manche sagen, sie wären einmal ein Liebespaar gewesen, doch sie schweigen beide darüber … und keiner sonst ist alt genug, um ihre gemeinsame Geschichte zu kennen.«
»Was ist das für ein Bündnis?« Veronika kramte vergebens in ihrem Gedächtnis. Sie wusste nicht mehr, ob Miklos ihr schon etwas darüber erzählt hatte oder nicht.
»Als Viktor noch dem Walachenfürst Mircea diente, vor langer Zeit, noch bevor meine Mutter geboren wurde, schützte er unsere Familie vor dessen Verfolgung«, sagte Solana. »Er setzte sich dafür ein, dass die Roma sich in der Walachei frei bewegen durften. Wir versprachen ihm dafür, stets zu Hilfe zu eilen, wenn er uns brauchte. Manche von uns sind seine Boten und Kundschafter. Er dankt es uns mit Schutz und so mancher Münze.« Sie lächelte. »Wir sind so
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