Mondherz
war. Auch Gábor machte der Wolfstrieb inzwischen zu schaffen, doch lange nicht so stark wie Miklos. Er ging neben seiner Pritsche auf die Knie und griff nach der hölzernen Schale. Seit zwei Tagen hatten sie weder Essen noch einen neuen Wasserschlauch erhalten. Die Schale war noch von der letzten Mahlzeit übrig. Zumindest konnten sie damit etwas von dem Wasser auffangen, das über die Wände rann, so wenig es auch war.
»Trink«, sagte er zu Miklos. »Das wird dir Erleichterung verschaffen.«
Seit Gábor den Bruder des Wächters erwähnt hatte, schlich Béla mit solch argwöhnischem Blick um ihre Zelle, als litten sie an der Pest. Gábor nutzte jede Gelegenheit, um ihn weiter anzustacheln. So auch vor einigen Stunden.
»Hast du Angst?« Gábor hatte die Zähne hinter der Luke zu einem finsteren Grinsen gebleckt. »Traust du dich nicht, es mit einem Türken aufzunehmen?«
»Halt endlich dein schäbiges Maul«, zischte Béla. »Du wirst elendig verrecken, warte nur!«
»Nein, du wartest.« Gábor lachte höhnisch. »Weißt du, wie lange ich es ohne Essen aushalten kann? Im Janitscharenlager wurden wir dafür ausgebildet. Und notfalls …« Er machte eine Pause und hob seine Oberlippe. Er wusste, dass seine Zähne im Licht der Talglampe glänzten. » … notfalls esse ich den Jungen. Der ist schon ganz schwach, er wird es gar nicht merken. Weißt du, wie Menschenfleisch schmeckt?«
»Du Teufel!«, rief der Wärter, und in seine Wut mischte sich Abscheu hinein.
Gábor nickte. »Der Teufel wartet schon auf mich.« Das meinte er sogar ernst. »Den Kerl, der dir ähnlich sah, den haben wir auch gegessen. Damals im Sommer vor drei Jahren. Erst haben wir ihn abgestochen und ausbluten lassen, denn so schreibt es unsere Religion vor. Und dann haben wir ihn wie einen Hammel über dem Feuer gegrillt.«
»Das habt ihr nicht!« Die Stimme des Wärters wurde schrill.
Gábor spürte einen Stich schlechten Gewissens. Niemals hatte er erlebt, dass die Türken solche Greueltaten vollführten, und er hasste es zu lügen. Im Moment war jedoch nur wichtig, dass Béla ihm glaubte.
»Doch, das haben wir.« Er rollte wild mit den Augen. »Gib mir ein Messer, und ich zeige dir, wie ich es getan habe.«
»Nein!« Der Wärter griff an seinen Gürtel und trat gleichzeitig näher ans Gitterfenster. Er stach mit seinem Dolch nach Gábor, doch geschmeidig wich dieser aus.
Es juckte ihn in den Fingern, nach dem Dolch zu greifen, doch er ließ es. Stattdessen lachte er auf.
»La-allah-il-allah«,
sagte er mit dunkler Stimme.
Béla zog den Dolch zurück und riss mit fahrigen Händen am Riegel der Tür. Miklos machte sich bereit.
»Hör auf damit, Béla«, rief da ein anderer Wärter. »Das darfst du nicht!«
»Er hat meinen Bruder gefressen. Und gerade hat er mich verflucht«, brüllte Béla. Doch seine zwei Kameraden packten ihn an den Armen und zogen den tobenden Wärter den Gang entlang, weg von Gábors Zelle. Hinter ihnen fiel die Tür ins Schloss. Es hallte wie Kanonendonner, danach war es still.
Seitdem war wohl ein halber Tag vergangen. Doch er würde kommen, Gábor spürte es in den Knochen. Béla würde zurückkommen.
Mit einem Zug lehrte Miklos die Wasserschale, leckte sich über die rissigen Lippen, dann setzte er seinen Marsch durch die enge Zelle fort.
Und da war es plötzlich, das Rascheln an der Tür, schlurfende Schritte. Gábor sprang auf und sah aus der Luke. Flackerndes Licht fiel auf den Gang, der Schein einer Fackel. Zwei Schemen kamen herein, bewegten sich den Gang entlang auf Gábors Zelle zu. Er roch sie mehr, als dass er sie sah. Béla und einer seiner Kameraden. Gábor wich zurück, stellte sich so an die Wand, dass er von der Tür aus nicht sofort zu sehen war.
Vor der Zelle blieben sie stehen und lauschten. »Ich weiß, dass du mich hörst«, zischte Béla schließlich. »Keine Angst, ich werde dich nicht umbringen. Nur so zurichten, dass du bereuen wirst, mich jemals getroffen zu haben.«
Ein Riegel wurde zurückgeschoben und mit einem Knarren, das für Gábor klang wie Engelsgesang, öffnete sich die Tür. Bélas Hand mit der Fackel erschien. Der Wärter sah auf Miklos, der direkt vor ihm auf der Pritsche kauerte.
»Wo ist der Scheißkerl, Junge?«, fragte Béla, und das waren seine letzten Worte. Mit einem Geräusch, das wie eine Mischung aus Fauchen und Knurren klang, sprang Miklos ihn an. Er packte Béla und riss ihn mit sich auf die Pritsche zurück, schlug ihm mit einem Fuß die Fackel aus der
Weitere Kostenlose Bücher