Mondherz
Schreibtisch des Königs eingesteckt. Wachleute starrten sie neugierig an, als sie den königlichen Trakt der Burg verließ, doch sie gaben ihr den Weg frei.
Ihr Herz schlug schnell wie ein galoppierendes Pferd. Sie hatte den König verletzt. Aber er lebte noch, seine Augenlider hatten bereits wieder geflattert, als sie sein Schlafgemach verlassen hatte. Gott sei’s gedankt.
Vielleicht sollte sie umkehren und um Verzeihung bitten. Ihre Flucht vergrößerte ihre Schuld doch nur noch. Stattdessen beschleunigte sie ihre Schritte, bis ihre Füße den kalten Boden kaum mehr berührten. Sie rannte durch die leeren Gänge, lautlos, obwohl sie schreien wollte. Die Steinwände schienen zusammenzurücken, zu einer kalten und grauen Wirklichkeit, in der sie allein und verloren war.
Sie keuchte, als sie am Fuß einer Treppe stehen blieb. Vor ihr öffnete sich der Burghof. Fahles Mondlicht spiegelte sich auf den nassen Pflastersteinen. Kein Mensch war zu sehen.
Hinaus,
flüsterte ihre Wölfin,
fort aus dieser Stadt.
Langsam trat Veronika in den Burghof, in die letzten Tropfen eines lauen Sommerregens. Die Sehnsucht nach der Freiheit der Wälder, nach der so unbegrenzt scheinenden Welt außerhalb der Stadtmauern war so stark, dass sie schluckte. Der Regen schmeckte salzig wie Tränen.
Mathias würde sie für ehrlos halten, und aus seiner Sicht mochte er damit recht haben. Sie brach ein Versprechen, das sie ihm gegeben hatte. Doch wenn sie dies nicht tat, wäre sie noch ehrloser. Sie erschauerte. Immer noch spürte sie seine Hände auf ihrer Haut.
Sie konnte ihre eigene wölfische Natur, ihren freien Willen nicht unterdrücken, nicht ohne des Königs Leben in Gefahr zu bringen und selbst daran zu zerbrechen. Und was war das für eine Prophezeiung, die eigentlich Gutes wollte und doch nur Schlechtes hervorbrachte? Sie atmete tief durch, gierig sogen ihre Lungen die frische Luft in sich ein. Der Druck auf ihrer Brust wich, nur eine dumpfe Traurigkeit blieb. Mochte Gott sie für ihr Fortgehen verfluchen, sie konnte nicht anders.
Langsam ging sie im Schatten der Mauer zu den Ställen hinüber. Einen Menschen gab es noch in dieser Stadt, dem sie verpflichtet war.
Wie sie geahnt hatte, schlief er im Stall, zusammengerollt hinter den beiden Stuten, die der Baro Rom ihm zum Abschied anvertraut hatte. Die Tiere waren stämmiger und dunkler als die edlen Pferde des Königs, doch Veronika kannte ihre Ausdauer und Beharrlichkeit. Sie wusste, dass Paulo sich ihnen näher fühlte als all den plappernden Bediensteten und Hofknechten. Nun, er hatte ihretwegen lang genug hier ausgeharrt.
»Aufstehen«, flüsterte sie.
Aufgeschreckt fuhr er hoch. Alarmbereitschaft blitzte in seinen dunklen Augen, und er beruhigte sich erst wieder, als sie sich ihm zu erkennen gab.
Immer wieder vergaß Veronika, dass die Menschen im Dunkeln kaum etwas sahen. Trotzdem fand sich Paulo ohne Probleme in dem nachtschwarzen Stall zurecht, und zu zweit hatten sie die Pferde bald gesattelt. Eine Fackel zu entzünden, wagte sie nicht. Einzig die Wachen am Tor sollten sie noch sehen, bevor sie die Burg verließ.
Paulo stellte keine Fragen, und umso froher war sie, dass er da war. Er und Solana waren ihre Anker, und ihr Herz pochte hoffnungsfroh bei dem Gedanken, bald wieder mit ihnen gemeinsam am Feuer zu sitzen. Sie würde den Geschichten der Phuri Dai lauschen und dabei den kleinen Ilai auf dem Schoß halten, den sie bisher noch nicht einmal kennengelernt hatte. Sie lächelte still.
Gerade wollten sie die Tiere aus dem Stall führen, als Veronika vom Burghof ein Geräusch hörte. Ledersohlen schlichen über Pflastersteine. Sie verharrte und zog Paulo am Ärmel, damit auch er stehen blieb.
Wer es auch war, er schien sich dort draußen im Schatten der Stallwand zu bewegen. Er war so leise, dass ein Mensch ihn sicher nicht gehört hätte. Ihre Wölfin richtete sich misstrauisch auf. Er kam näher, und sie duckte sich hinter ihr Pferd, zog auch Paulo nach unten in die Knie. Die Tiere befanden sich zwischen ihnen und der halboffenen Stalltür. Sie lugte unter dem Bauch ihrer Stute hinüber zu dem schmalen Streifen Mondlicht. Da war ein Mann, nicht mehr als ein Schatten. Er schlich vorbei, ohne einen Blick hereinzuwerfen.
Veronika drückte eine Hand auf den Mund, um nicht zu japsen. Sie hatte seinen Duft aufgenommen. Der Fremde trug die untrügliche dunkle Note eines Werwolfs.
Tausend verwirrte Gedanken fuhren ihr durch den Kopf. Aus welchem Rudel kam er? Und was
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