Mondherz
Und der Wolf in ihm drängte hinaus, drängte danach, Veronikas Spur aufzunehmen. Er biss sich auf die Lippen und eilte mit gesenktem Kopf hinaus.
In seiner Kammer zog er eine Truhe hinter seinem Bett hervor. Hier lagerten die frisch geprägten Gulden, die ihm der treue Verwalter seiner Grafschaft Livedil halbjährlich schickte. Er füllte den Beutel an seinem Gürtel, bis der so prall war, dass die Münzen nicht mehr klimperten. Auch einen Dolch steckte er ein, und über die Schulter warf er den blauen Mantel mit dem Wappen der Hunyadis, den er einst von Mathias erhalten hatte. Trotz allem hoffte er, dass er dem König noch einmal würde dienen können.
Erst als er durch das Burgtor hinaus war, konnte er wieder frei atmen. Er schloss die Augen, gestattete seinem Wolf, nach vorne zu kommen. Die vielfältigen Geräusche und Gerüche der Stadt drangen von allen Seiten auf ihn ein, pulsten durch seinen Körper wie der stete Strom seines Blutes. Als er die Augen wieder öffnete, war er ruhig und entschlossen. Gemächlich ging er die Straße hinunter, folgte dem Instinkt seines Wolfes, der die Fährte seiner Gefährtin suchte. Wenn Veronika noch in der Stadt war, würde er sie finden.
Irgendwann näherte sich die Sonne dem Horizont, wurde zu einem roten Feuerball, der die Hügel in Brand zu setzen schien. Die Ziegelwand hinter der Hafenlände, an der Gábor und seine beiden Begleiter lehnten, schien im Abendlicht zu glühen wie die Flammen des Fegefeuers.
»Und wenn sie doch den Roma hinterhergereist ist?« Über diese Frage hatten sie schon früher am Tag diskutiert, doch beschlossen, erst einmal die Stadt abzusuchen.
Gábor nickte nun. Sie hatten jede verwinkelte Gasse von Buda durchstreift, sogar das Judenviertel und die Händlerschuppen am Hafen, doch es war, als hätte der Herrgott persönlich jede Spur von Veronika fortgewischt. Sie hatte im letzten Jahr gezeigt, dass sie stark genug war, um ihren eigenen Weg zu gehen. Deshalb war es gut möglich, dass sie die Stadt gleich nach ihrem Streit mit Mathias verlassen hatte, um sich auf den Weg zu ihren Freunden zu machen, den Roma.
Er wandte sich von Miklos und Arpad ab und blickte auf das glitzernde Wasser der Donau hinaus. Die beiden anderen Werwölfe ließen ihn in Ruhe. Er dachte sorgfältig nach. Wo mochten die Roma hingereist sein? Und wie konnte er sich an ihre und Veronikas Fährte heften und gleichzeitig verhindern, dass Pavel sie alle aufstöberte?
Zwei Kinder störten ihn in seinen Gedanken. Gerade hatten sie noch Steine ins brackige Hafenwasser geworfen, doch nun waren sie näher gekommen und gafften ihn an. Sie trugen schäbige Kittel und konnten nicht mehr als fünf Jahre zählen. Jetzt beugten sie ihre verschmutzten Gesichter zueinander und tuschelten. Er machte sich nicht die Mühe zu lauschen. Wahrscheinlich berieten sie, ob sie ihn anbetteln sollten. Er fuhr sich durchs Haar, und prompt wichen sie ein Stück zurück, starrten ihn erwartungsvoll und gleichzeitig ängstlich an.
Was sie wohl in ihm sahen? Einen wohlhabenden Bürger wahrscheinlich, der sich hierher verirrt hatte. Seine Herkunft war ihm sicher nicht anzusehen. Wer konnte schon sagen, wie viele Bastarde von Königen und Päpsten unerkannt durch die Lande streunten. Doch der Gedanke nagte plötzlich erneut an ihm. Wenn er in Semendria damals nicht geflohen wäre, wenn der Sultan ihn tatsächlich an seinen Hof geholt hätte, wer wäre er dann heute? Ein Prinz, ein Wesir? Oder gar selbst Sultan? Abrupt wandte er sich zu Arpad um. Der Türke bemerkte seinen Blick und zog fragend die Augenbrauen hoch. Gábor musterte ihn still. Wenn er damals bei ihm geblieben wäre, wären sie sicherlich heute noch enge Freunde. Und sie wären Menschen.
Er spürte in sich hinein, fühlte die dunkle Existenz seines Wolfsbruders, der immer da war. Der Wolf war ein Teil seiner Seele, und er konnte sich nicht mehr vorstellen, dass es anders wäre.
Finde heraus, wer du bist,
hatte Veronika zu ihm gesagt.
Plötzlich musste er lachen. Immer hatte er geglaubt, vollkommener als jeder andere Sterbliche sein zu müssen, nur durch selbstlosen Dienst am Bund von seiner Vergangenheit erlöst werden zu können. Dabei war er nur vor sich selbst davongelaufen. Und trotz Pavels und Viktors Schweigen hatte die Wahrheit letztendlich einen Weg zu ihm gefunden.
Er war der Gefährte der Auserwählten, von Geburt an dazu bestimmt. Seine tiefen Gefühle und der Instinkt seines Wolfs waren von Anfang an richtig gewesen. Und
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