Mondherz
Holzklappe, die sie öffneten.
»Ich gehe voran.« Gábor zündete an Michaels Licht eine weitere Fackel an und stieg in die Höhle hinunter. Der Gang war so niedrig, dass er sich bücken musste. Der Duft nach Schnee lag in der Luft. Vorsichtig schritt er voran. Sie befanden sich nun unterhalb des Burggrabens, der die Oberstadt auf der Landseite wie eine tiefe, gemauerte Schlucht vom Wald abgrenzte. Der ebene Höhlengang führte sie einige hundert Schritte geradeaus. Nach einer Weile machte der Gang einen Knick, und es ging wieder aufwärts. Holzpfosten stützten nun die Wände ab. Die natürliche Höhle endete hier, und der von Menschen erschaffene Teil des Gangs begann wieder. Gábor musste den Kopf einziehen, während er die steil in den Fels gehauenen Stufen erklomm. Immer weiter hinauf ging es, bis die Stufen vor einer Felswand endeten. Er steckte die Fackel in eine Fassung und stemmte sich gegen einen schweren Holzpfahl, der neben ihm aus dem Boden ragte, ein Hebel, der sich nur träge bewegte. Irgendetwas in der Felswand knirschte leise. Gábor stemmte sich weiter gegen den Hebel und griff in den Spalt, der sich jäh neben der Felswand aufgetan hatte. Ohne seine Übung und die übernatürlichen Kräfte, die das Wolfsblut ihm schenkte, hätte es zwei weitere Männer gebraucht, um die Felswand zur Seite zu schieben, die in Wahrheit nichts anderes als eine steinerne Tür war. Endlich hatte er es geschafft. Ein klarer Sternenhimmel kam zum Vorschein, wie ein Gemälde eingerahmt von schwarzen Felszacken. Vorsichtig kletterte er hinaus, tastete mehrere Schritte nach vorn, dann winkte er den anderen, ihm zu folgen. Vor ihm fiel das Gelände steil ab. Felsen und Dornenbüsche säumten eine Waldlichtung. Weiß hoben sich die verschneiten Baumspitzen gegen die Dunkelheit ab. Eine Mannlänge musste er nach unten über Stein und Geröll klettern, bis er die Büsche erreichte. Sorgsam achtete er darauf, die Büsche nicht zu beschädigen, als er sich einen Weg in den Wald bahnte. Ein Knirschen hinter ihm verriet, dass Michael die Felsentür wieder schloss, indem er einen zweiten Hebel betätigte, der versteckt in einer kleinen Spalte saß. Der Höhlengang war nun sicher verborgen.
Hinter Gábor traten Veronika und Michael in den Wald, ihre Atemwolken bleiche Nebelgeister in der Nacht. Keine Worte waren nötig, er wusste, die anderen fühlten das Gleiche wie er. Das Holz, das sich unter dem Frost dehnte und knackte, das Tapsen der Nachttiere, Schnee, der fast lautlos von den Zweigen wischte, wenn der Wind sie bewegte. Das fahle Leuchten über den Wipfeln. Gábor hörte den Ruf des Mondes so deutlich wie schon lange nicht mehr. Die Sorgen der letzten Stunden fielen wie ein lästiger Mantel von ihm ab. Schnell entledigte er sich seiner Kleidung, reckte sein Gesicht zum Himmel und hieß die Verwandlung willkommen.
Nur wenige Augenblicke später liefen drei prächtige Tiere durch den Wald. Sie bewegten sich rasch, und sie waren größer und schwerer als jeder geborene Wolf. Eine helle Wölfin führte zwei Rüden an. Die beiden Männchen hatten die gleiche Schulterhöhe, waren jedoch ansonsten so verschieden wie Kohle und Schnee. Der Ältere war sandfarben und von beeindruckend mächtiger Statur, mit der er sich gewaltsam einen Weg durch das Unterholz brach. In seinem wuchtigen Schädel glommen zwei stahlblaue Augen. Der andere war schwarz, und seine schlanke Gestalt verschmolz mit den Schatten, als wäre er einer von ihnen. Die Waldtiere flohen vor ihrem Geruch, der wie eine dunkle Wolke über den Waldboden fegte. Ihre Pfoten hinterließen tiefe Spuren im Schnee, Krallen wetzten über Steine und Baumstämme, und das Hecheln ihres Atems klang durch die Winterluft.
Bald hefteten sie sich an die Spur eines Hirsches, der mit weiten Sprüngen vor ihnen zu fliehen versuchte. Es war eine schnelle Jagd. Gierig stürzten sie sich auf ihn, als er aufgab. Sein Blut dampfte noch, als sie es sich von den Lippen leckten und sich gesättigt niederließen. Der Schwarze legte sich neben die Wölfin, deren hellgraue Augen ihn einen Moment musterten, bevor sie ihn spielerisch in die Schnauze kniff. Gerne ließ er sich von ihr das Fell zausen, und er hob seine Lefzen, als ob er lächelte.
Das Knurren des anderen Rüden ließ ihn aufblicken. Der Ältere stand breitbeinig vor ihnen, die Pfoten fest in den Waldboden gestemmt, und starrte ihn voller Grimm an. Der Schwarze legte den Kopf schräg, die klugen Augen gesenkt, als würde er
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