Mondherz
nachdenken, doch der andere ließ ihm keine Zeit dazu. Er warf sich auf ihn. Mit seinem Gewicht hätte er ihn zu Boden gedrückt, doch der Schwarze rollte mit einer geschickten Bewegung zur Seite. Unwillig schnappte der Helle nach ihm, doch schon war der Schwarze auf den Beinen und außer Reichweite. Er knurrte nun ebenfalls, erwartete einen weiteren Angriff. Doch so plötzlich, wie der Zorn des Älteren erwacht war, verebbte er wieder. Er wandte sich von ihm ab und der Wölfin zu, an deren Seite er nun den Platz des Rivalen eingenommen hatte. Sie hechelte unentschlossen und ihr Schwanz peitschte auf den Boden, aber sie erhob sich nicht. Er rückte näher an sie heran, so dass sich der helle Pelz der beiden vermischte, und legte seine Schnauze auf ihren Rücken. Mit feinen Bissen kraulte er ihren Nacken. Die Augenlider halb geschlossen, ließ sie sich die Liebkosungen des Älteren gefallen. Trotz der Sanftheit hatte sein Verhalten etwas Forderndes. Unruhig strich derweil der Schwarze um sie herum. Seine dunklen Augen leuchteten wie Kohlenfeuer, während er die beiden anderen beobachtete.
Plötzlich quiekte die Wölfin auf und schüttelte sich. Einer der Nackenbisse des hellen Rüden war tief in ihr Fell gedrungen. Er hielt sie immer noch fest gepackt, und sie duckte sich hilflos in seinem Griff.
Das ließ den Schwarzen jede Zurückhaltung vergessen. Er spannte seine Muskeln an, und ein tiefes Knurren kam aus seiner Kehle. Mit einem mächtigen Sprung stürzte er sich auf den Älteren. Überrascht fuhr der herum, doch er war zu langsam, um noch auszuweichen. Er heulte auf, als der Schwarze ihn auf den Rücken warf. Sie verknäulten sich zu einem kämpfenden Bündel, schnappten und bissen einander. Der Alte war kräftiger und schwerer, doch der Junge bewegte sich schnell wie der Wind und kämpfte mit einer Wut, gegen die der andere nicht ankam. Bald schien der Helle dies einzusehen, denn er wich nach einer Weile nur noch den Angriffen aus, bevor er sich umdrehte und hinkend im Wald verschwand.
Sofort wandte sich der Schwarze wieder der Wölfin zu und suchte nach ihrem Blick. Sie hatte sich an den Rand der Lichtung zurückgezogen und beäugte ihn misstrauisch, doch sie ließ ihn herankommen. Er stupste sie vorsichtig an die Schulter und jaulte leise, als wolle er um ihr Verständnis bitten. Doch sie blieb unruhig, und nach einer Weile rannte sie in den Wald hinein, zurück nach Norden auf das nächtliche Belgrad zu, und ihr Gefährte folgte ihr.
Veronika hüllte sich eilig in den Wollmantel, bevor sie sich zu Gábor umwandte. Auch er hatte seine menschliche Gestalt wieder angenommen und seine engen Beinkleider übergestreift, doch sein Oberkörper blieb nackt. Die Kälte schien er nicht zu spüren. Laubreste und ein paar Erdklumpen hafteten noch auf seiner Haut und in seinem schwarzen Haar. Sein Duft war so stark, dass er ihre Sinne schier betäubte. Rasch wandte sie den Blick ab. Sie atmete immer noch schnell, während der Rausch der Verwandlung allmählich abklang. Mit einem Schritt war Gábor bei ihr und umfasste ihren Nacken. Sie keuchte erschrocken auf. Sein Griff war fest, und sie spürte seine Kraft, die der ihren überlegen war. Sie wand sich, doch er hielt sie so, dass sie ihn anschauen musste.
»Lasst mich los«, rief sie. Seine Augen bohrten sich in ihre. Sie hörte seinen raschen Herzschlag. Sie erzitterte. Was wollte er von ihr? Das unsichtbare Band der Vertrautheit, das sie in ihren Wolfskörpern verbunden hatte, war wieder gerissen. Die Erinnerungen an die Geschehnisse im Wald waren verschwommen, wie jedes Mal, doch sie wusste noch, dass es einen Kampf zwischen den beiden Männern gegeben hatte.
Einen Kampf?
Sie japste auf.
»Was habt Ihr getan?«, rief sie. Gábor sagte nichts, doch unter seinem Griff rutschte ihr Mantel nach unten und entblößte ihre Schultern. Sie sah, wie er auf ihre rechte Schulter starrte, auf das Feuermal, das dort ihre weiße Haut verunzierte. Plötzlich beschämt zog sie den Mantel wieder hoch und verschränkte die Arme. Sie hasste dieses rote Mal, es war ein Makel, und er sollte es nicht sehen.
»Wir müssen reden«, sagte er.
»Ja, das müssen wir wohl!« Sie packte seinen Arm und riss daran, doch er ließ sie nicht los. Wo war eigentlich Michael? Sein Geruch hing nur schwach in der Luft. Er musste noch irgendwo im Wald unterwegs sein. Vielleicht folgte er ihrer Spur und kam bald zurück, dann wäre sie mit Gábor nicht mehr allein. Hoffentlich kam er schnell!
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