Mondherz
verstehen.
Noch fester presste sie die Hände zusammen. Unter ihren Knien spürte sie die Kälte des Steinbodens. Und wenn die Türken vielleicht doch nicht kamen? Die widersprüchlichsten Gerüchte hatte sie in den letzten Tagen gehört. Die Türken zogen nach Norden, weit an Belgrad vorbei. Sie bewegten sich nach Westen, Richtung Italien. Sie waren auf den Sandbänken der Donau gestrandet und würden frühestens in einigen Wochen eintreffen. Wenn sie erst einmal Belgrads wuchtige Befestigungsanlagen gesehen hätten, würden sie unverzüglich zurück nach Konstantinopel fliehen. Überall waren Spione, unter den Händlern, den Juden, sogar unter den Wandermönchen. Inmitten dieses Aufruhrs kam sie sich so klein vor wie eine Maus, die in Gefahr war, unter all den Stiefeln zermalmt zu werden.
Das Lied der Gemeinde verklang und der Weihbischof erhob sich. Leuchtend rot strahlte die Stola, die er um die Schultern gelegt hatte, durch den dämmrigen Raum.
»Lasset uns beten«, sprach er, und unter seiner Stimme senkten alle Anwesenden das Haupt. »Heiland aller Welt, gewähre uns die Fürsprache deiner heiligen Erzengel und aller himmlischen Mächte und schütze uns mit deiner starken Rechten. Stärke uns gegen den Feind, so dass wir in der Kraft des heiligen Kreuzes siegen können.« Er holte tief Atem, Veronika hörte, wie es in seiner Brust rasselte. Er war bereits ein alter Mann, doch durch nichts zu beirren. »So wie du, Erlöser, Moses und David über ihre Feinde hast triumphieren lassen, so segne heute das Feldzeichen Belgrads. Segne jeden Soldaten in deinem Namen, jedes Schwert, das sich gegen den heidnischen Feind erhebt. Besonders segne den Hauptmann Michael Szilagyi, der die Männer von Belgrad im heiligen Kampf führen wird.«
Er schlug das Kreuz über Michaels Kopf, und ein Raunen ging durch die Gemeinde. Der Bischof hatte allein von den Männern Belgrads gesprochen. Glaubte auch er nicht mehr daran, dass Hunyadis Heer rechtzeitig eintraf? Überdies war es noch nie vorgekommen, dass der Kirchenmann eine Person namentlich in seinen Segen eingeschlossen hatte. Veronika begriff, wie klug diese Geste heute war. Die Stadtmiliz, tapfere Bürger aus der Belgrader Unterstadt, würden sich nun Michaels Befehlen bereitwilliger beugen als vorher. Unter Gottes Segen vereint würden sie die Streitereien um diverse Zuständigkeiten überwinden können. Mit ihnen verfügte Michael über siebentausend Mann, siebentausend gegen eine wohl zehnfache Übermacht.
Als der Gottesdienst zu Ende war, folgte sie Michael und seinen Getreuen aus der Kathedrale zurück ins blendend helle Tageslicht. Michael drehte sich um, und kurz zwinkerten seine blauen Augen ihr zu, als wäre alles in Ordnung. Sie versuchte sich mehr schlecht als recht an einem Lächeln, ehe er sich wieder abwandte. Ehrerbietig machten die Menschen ihm Platz, als er die Treppe hinunterschritt, manche bekreuzigten sich bei seinem Anblick sogar. All ihre Hoffnung ruhte nun auf ihm und seinen Männern. Michaels ernste Miene zeugte davon, dass er dies wusste. Mit erhobenem Kinn schritt er durch die Menge, die Hand auf den Schwertknauf gelegt. Plötzlich blieb er stehen und rief laut über den Platz: »Wir werden diese Bastarde in die Flucht schlagen!« Die Bürger reagierten mit lautem Jubel, nur wenige Gesichter blieben blass und verkniffen.
Das Geschrei summte Veronika in den Ohren. Sie senkte den Kopf und strebte vorwärts, um dem Lärm möglichst rasch zu entkommen. Keiner beachtete sie, und sie fühlte sich wie eine Fremde inmitten der aufgewühlten Menge.
»Herr Hauptmann, ein Bote!« Der Ruf wurde am Ende des Platzes von einer einzelnen Kehle ausgestoßen, beinahe unbemerkt, doch dann pflanzte er sich von Mund zu Mund fort, ein rasch wuchernder Schrei, der lauter wurde, je näher er kam. »Ein Bote aus dem Süden. Er hat die Türken gesehen!«
Veronika reckte sich und versuchte, zwischen den Köpfen etwas zu erspähen. Eilig wichen die Leute vor dem Reiter zurück. Eine Gasse bildete sich, die bis zum Hauptmann führte.
Der Bote stützte sich schwer auf den Sattelknauf, und sein Atem ging stoßweise. Als er bei Michael angelangt war, wollte er absteigen, um seine Ehrerbietung zu bezeugen, doch der Hauptmann winkte ab.
»Was hast du zu melden?«, fragte er dröhnend. Nur Veronika hörte die Aufregung, die in seiner Stimme vibrierte.
»Die Türken, sie haben Grocka gestürmt!«, keuchte der Mann.
Die Leute in seiner Umgebung schrien auf. Veronikas Herz zog
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