Mondherz
verloren.
Drei Tage vergingen. Wie ein Gottesurteil wüteten die türkischen Kanonenkugeln weiter in der Stadt, zerstörten Häuser, setzten Holzdächer in Brand und rissen unschuldige Seelen in den Tod. Das Vieh schrie fast ununterbrochen vor Angst, und die Leute eilten mit eingezogenen Köpfen durch die Gassen, als erwarteten sie jederzeit das Jüngste Gericht.
Inzwischen wurden auch die Alten, die bereits keuchten, wenn sie eine Treppe erklommen, als Wachen auf den Mauern eingesetzt, während die Frauen Wassergefäße schleppten, um Brände zu löschen. Selbst die Kinder halfen mit, zerstörte Gebäude abzutragen und den Schutt an die Mauern zu bringen, wo er in Fässer gefüllt wurde, um damit notdürftig die Breschen zu flicken. Doch die Zahl der Toten und Verletzten wuchs stetig, und die fehlende Nahrung in der Unterstadt schwächte auch die Kräfte der Gesunden. Als im Hafenviertel die Pestilenz die ersten Toten forderte, füllten sich die Kirchen noch mehr als zuvor mit verzweifelten Bittstellern. Während die Toten in rasch ausgehobene Gruben am Stadtgraben geworfen wurden, beteten viele Menschen die ganze Nacht hindurch.
Gábor sah Veronika in jenen Tagen kaum. Wenn er ehrlich mit sich selbst war, war er erleichtert darüber. Wenn die Schlacht es erforderte, würde er ohne zu zögern sein Leben für sie einsetzen, doch das Gespräch mit ihr fürchtete er. Was hätte er ihr auch sagen können?
Stattdessen stellte er sich seinen Erinnerungen. Die düsteren Bilder folgten ihm wie Schatten, seit er Hunyadis Feldlager verlassen hatte. Er wusste, was die Kinder des Yayabaşı vorhatten, denn vor vielen Jahren war er selbst Bestandteil eines solchen Plans gewesen. Er … und Arpad. Seit Veronika ihm diesen Namen genannt hatte, war er erfüllt von Widerwillen und Unruhe. An einen Zufall glaubte er nicht.
Mit Arpad hatte er damals jeden Kanten Brot geteilt. Arpad hatte den Jüngeren getröstet, dem das Kämpfen und Töten anfangs so zuwider gewesen war, dass er wochenlang weder gegessen noch geschlafen hatte. Und er war der Einzige gewesen, der Gábors sehnlichsten Wunsch ernst genommen hatte: den Namen des türkischen Hauptmanns zu kennen, der ihn einst gezeugt hatte. Als ob ihn dieser Fremde vor den willkürlichen Übergriffen der älteren Soldaten hätte schützen können! Arpad hatte ihm bei der Suche geholfen. Sie hatten für ihre Fragerei zahlreiche Prügel eingesteckt, doch Gábors einstiger Entführer, der gesagt hatte, dass er den Vater kannte, war nicht mehr auffindbar gewesen.
Vierzehn Jahre zählte Gábor, als ihre türkischen Herren ihm und Arpad erstmals so weit vertrauten, dass sie sie mit einem Auftrag ins Feindesland schickten. Sie gaben sich als ungarische Flüchtlinge aus und verschafften sich so Zugang in die serbische Stadt Semendria, die bald darauf von den Türken belagert wurde. Einer ihrer Ausbilder wartete dort auf sie, versteckt bei einem bestochenen Händler. Zwei weitere Jungen stießen zu ihnen, ebenfalls junge Janitscharen, die als ehemalige Christen in der Stadt nicht auffielen. Ungeduldig verharrten sie in ihrem Unterschlupf, willige Werkzeuge, die genauestens darauf achteten, den Einheimischen ihre wahre Identität nicht zu verraten. Auch Gábor hatte den kindlichen Widerstand aufgegeben und war zu einem sorgsam ausgebildeten Halbwüchsigen herangewachsen, der seinem Befehlshaber gefallen wollte.
Als der mit den türkischen Belagerern vereinbarte Tag kam, verwandelten sich harmlose Bauernburschen in erbarmungslose Kämpfer, bereit, jeden zu töten, der ihnen im Weg stand. Ihr Ziel war das Südtor, das schwächste Glied in Semendrias Verteidigung. Es war kaum mehr als eine Pforte, die ins abgelegene Sumpfland führte. Nur sechs Kriegsknechte bewachten es nachts, da niemand dort mit einem Angriff rechnete. Es war ein leichtes Spiel. Die Knaben kamen lautlos und erdrosselten die ersten drei Männer mit feinen Bogensehnen, ohne dass ein Ton über deren Lippen drang. Die anderen drei Knechte wurden rasch überwältigt, und mit einfachen Bauernmessern schnitten sie ihnen die Kehlen durch.
Wenn nur die Kinder nicht gewesen wären. Die Erinnerung daran war wie ein Dämon, der Gábor in seinen Alpträumen heimsuchte.
Zwei Kinder hatten den Kriegsknechten in der Wachstube Gesellschaft geleistet. Vielleicht waren sie dort, weil die Männer ein gutes Herz hatten und die Kleinen nicht draußen in der Herbstnacht frieren lassen wollten, vielleicht auch, weil einer von ihnen ihr
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