Mondherz
Vater gewesen war. Gábor wusste es nicht. Doch in dem Augenblick, als er dem letzten Mann die Kehle durchschnitt, sah er sie, wie sie in einer Ecke hinter einer Truhe kauerten. Zwei kleine Gestalten mit rehbraunem Haar, das ihnen strähnig ins Gesicht fiel. Das Mädchen war höchstens sieben Jahre alt, und die Panik in ihren aufgerissenen Augen würde er nie vergessen. Jäh begann sie zu kreischen, ein serbisches Geheul, das er nicht verstand. Er wusste keinen anderen Weg, als mit dem Messer in der Hand über die Leichen der Erwachsenen zu setzen, direkt auf sie zu. Das andere Kind, ihr Bruder wohl, schien nur ein paar Jahre älter zu sein. Verloren wie Rehkitze wirkten sie, und doch wusste offenbar zumindest der Junge, dass jeder weitere Ton ihr Todesurteil wäre. Er packte seine Schwester an den Schultern und drückte ihr eine Hand auf den Mund. Die Kleine strampelte und wimmerte, und der Blick des Bruders bohrte sich in Gábors Augen. Er musste dort etwas gesehen haben, denn in seinem Blick flackerte etwas auf. War es Hoffnung? Er redete plötzlich, seine Augen groß und glänzend wie zwei Murmeln. Die Worte rollten immer schneller aus seinem Mund, durchtränkt von Furcht und völlig unverständlich. Doch Gábor musste die Sprache nicht verstehen, er wusste auch so, dass der Junge um sein Leben flehte und um das seiner Schwester.
Gábor wusste nicht, was er fühlte, ob er überhaupt etwas fühlte. Er starrte nur und wog das Messer in der Hand, bis er den ruhigen Befehl des Anführers in seinem Rücken hörte. »Töte sie.«
Die Kinder mussten etwas verstanden haben, denn das Mädchen riss sich los. Wie in Zeitlupe stolperte sie in Gábors Richtung. Er streckte den Arm aus und durchtrennte ihr in einer fließenden Bewegung die Kehle. Erstarrt blickte der serbische Junge auf seine Schwester, auf das Blut, das aus ihrem Hals pulste. Dann warf er sich mit einem gellenden Schrei auf Gábor. Es brauchte nicht mehr als einen schnellen Schritt zur Seite und ein Hochreißen des Arms, und auch der Junge lag auf dem Boden. Seine Hände fuhren zu seiner Kehle, wo das Leben aus ihm hinausrann. Seine Lippen zitterten wie Schmetterlingsflügel, Tränen tropften auf seine rotbefleckten Hände. Dann sah er auf, Gábor ins Gesicht … und sein Blick brach. Er war tot.
Und Gábor, der geglaubt hatte, sein Herz wäre kalt und starr, erschreckte dieser letzte Augenblick bis ins Mark. Er wusste plötzlich, dass diese Tat ihn verdammen würde, verdammen in jene Höllengrube, in der die Kindsmörder brannten. Er spürte einen stechenden Schmerz in der Brust, als wäre er zu schnell gerannt, dabei stand er doch still, die Kinder wie Puppen zu seinen Füßen.
Arpad hatte ihn beobachtet, daran erinnerte er sich, und in seinen Augen hatte er nichts gelesen, kein Mitgefühl und kein Verständnis. Hätten sie nach dem Tod der serbischen Kinder miteinander geredet, wäre es vielleicht anders gekommen. Doch Arpad verließ ihn, ging ohne ein Wort mit dem Anführer nach draußen und half ihm, das Tor von Semendria zu öffnen. Die Türken erstürmten die Stadt, und in der gleichen Nacht hatte Gábor vor ihnen und dem Krieg die Flucht ergriffen – doch der Erinnerung an die Augen des Jungen konnte er nicht entkommen.
Auf dem Westtor ging der wachführende Ritter die Reihen entlang und gab seinen Männern leise Anweisungen. Sie verbargen sich paarweise in den Scharten entlang der Mauer über dem Tor. Sie waren Bogenschützen und insgesamt dreimal so viele, wie offiziell diesem Tor zugeteilt waren. Die Männer hatten Order, sich nicht auf den Zinnen zu zeigen. Kein Türke sollte argwöhnen, dass die Christen etwas von einem Verrat innerhalb der Stadt wussten.
»Der Mond ist fast voll und der Himmel bisher wolkenlos«, sagte Miklos zu Gábor. »Das wird es den Verrätern schwermachen, sich unbemerkt anzuschleichen.«
Gábor nickte. Er spürte den Ruf des Mondes nur allzu deutlich, obwohl die Nacht noch nicht einmal hereingebrochen war. Er beugte sich über die Brustwehr und blickte über die Dächer. Die letzten Strahlen der Sonne tauchten die Stadt in ein solch tiefes Orangerot, als stünde sie in Flammen. Der Anblick erschien ihm wie ein böses Omen, und obwohl er nicht abergläubisch war, bekreuzigte er sich.
Er hatte das Westtor als den schwächsten Punkt in Belgrads Verteidigungswall erkannt. Arpad würde es ebenso sehen. Das Tor lag am Rande des Händlerviertels, dessen Lager wegen der Belagerung leer standen. Besonders nachts
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