Mondlaeufer
Aufzeichnungen auch die Schriftrollen weggeschlossen waren. Segev überlegte rasch, wie die Bücher geordnet waren, und atmete erleichtert auf, als ihm einfiel, dass die Bücher, die Andry erwähnt hatte, auf der anderen Seite der Bibliothek standen. Doch dann erstarrte er wieder, als er die zweite Stimme erkannte. Alle seine Pläne waren zunichtegemacht.
»Ich dachte eher an ein paar Reihen Bücher über Landwirtschaft als Schlafmittel«, neckte Hollis.
Segev hörte, wie die Schritte sich entlang der langen Regale entfernten, und regte sich rasch wieder. Außer dem Türschloss hatte er nichts angerührt, also musste er auch nichts an seinen Platz zurückstellen. Er ließ seine Finger verlangend über das Lederetui mit der Sternenrolle gleiten und schlüpfte dann zur Tür hinaus. Mit einem leisen Klicken rastete das Schloss ein. Während er den Schlüssel einsteckte, verfluchte er Andry, der alles verdorben hatte. Nachdem er Hollis Tee vorgesetzt hatte, der mit Dranath versetzt war, war sie seinem Vorschlag gefolgt und planmäßig zu den Ställen gegangen, um ihm ein Pferd zu satteln, damit er rasch und ohne Aufsehen verschwinden konnte. Doch jetzt konnte Segev sich nicht darauf verlassen, dass das Pferd wirklich für ihn bereitstand.
In den Schatten der Regale bewegte er sich auf die Haupttür zu, gefror aber erneut am Platz, als er die beiden zurückkommen hörte. Nebenan war eine Nische mit Stuhl und Schreibtisch. Segev setzte sich, schlug ein liegen gebliebenes Buch auf und legte seinen Kopf auf die verschränkten Arme.
»Oh, Andry, – sieh doch«, meinte Hollis leise ganz in seiner Nähe. »Vorhin habe ich ihn gar nicht bemerkt. Der arme Kerl!«
»Er lernt wirklich mit Hingabe«, flüsterte Andry. »Sollen wir ihn wecken?«
»Wenn nicht, hat er morgen einen furchtbar steifen Hals.«
Sanft legte sich eine Hand auf seinen Kopf, und unwillkürlich durchlief Segev ein Schauer der Erregung. Er hatte die Nacht mit ihr nicht vergessen und würde das wohl niemals können. Er benutzte seine Reaktion, um plötzliches Erwachen vorzutäuschen, und murmelte: »Entschuldigung, Morwenna – ich habe die Antwort vergessen. Oh!« Er blinzelte und setzte sich auf. Hollis lächelte nachgiebig, und Andry grinste ihn über eine Schriftrolle hinweg an, die er mit beiden Händen vor der Brust trug. »Was ist los? Bin ich eingeschlafen?«
»Ja, und wohl schon vor einer ganzen Weile.« Hollis fuhr ihm durchs Haar. »Ab ins Bett, Sejast.«
Als er gähnend aufstand, machte er wirklich einen benommenen, übermüdeten Eindruck. Andrys scharfer Blick war zu dem offenen Buch auf dem Tisch geschweift, und er hob die Brauen genauso, wie Andrade es immer tat.
»Magnowas Abhandlungen? Das ist gar nicht so einfach.«
Segev war froh, dass er das Buch wirklich kannte. Er brachte ein schüchternes Achselzucken zu Stande. »Einige Wörter sind schwer, aber es ist interessant.«
»Vieles davon kommt aus der alten Sprache«, bemerkte Andry. »Ist es sehr schwierig für Euch?«
»Teilweise, Herr, aber es wird schon leichter.« Er fügte kühn hinzu: »Mit den Schriftrollen wird es wohl genauso sein.«
Hollis beantwortete Andrys erstaunte Reaktion mit den Worten: »Er kommt aus den Bergen. Die Dialekte dort sind der alten Sprache näher als unsere. Er interessiert sich für Geschichte und hat mir schon einige Male geholfen.«
Der junge Lichtläufer nickte langsam. »Vielleicht würdet Ihr mir gern bei ein paar Stellen helfen.«
Segev stieß fast einen Begeisterungsschrei aus. »Wenn ich darf, Herr?«
»Die Teile über Geschichte sind oft wirklich schwierig, und es gibt einen Haufen Wörter, aus denen ich nicht schlau werde. Ich würde mich über Eure Hilfe freuen.«
»Oh, danke! Ich würde so gern mit Euch und Lady Hollis arbeiten …« Er warf der goldblonden Lichtläuferin absichtlich einen bewundernden Blick zu. Mit ihren leuchtenden, dunkelblauen Augen gab sie das Lächeln zurück.
Andrys Lippenwinkel zuckten, denn er hatte genau das gesehen, was Segev ihn hatte sehen lassen wollen: einen Jungen, der in eine ältere Frau vernarrt war. »Morgen spreche ich mit Lady Andrade darüber. Aber jetzt sollten wir erst mal wieder alle nach oben gehen, meint ihr nicht?«
Nachdem er Andry seine Bewunderung für Hollis vorgemacht hatte, war es ein Kinderspiel, sie zu ihrem Zimmer zu begleiten. Er tat, als würde er von dem Blick auf die See zum Fenster gezogen, und legte auf dem Rückweg zur Tür den Schlüssel geräuschlos in die kleine
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