Mondlicht steht dir gut
nachsehen, ob ich nicht den Verwandten von Mrs. Shipley zur Hand gehen kann. Noch einen schönen Tag, Miss Holloway.«
56
Es war Mittag, als Earl Bateman am Friedhof St. Mary’s eintraf. Er folgte langsam den Kurven des Serpentinenwegs, stets darauf bedacht, einen Blick auf die verschiedenen Leute zu werfen, die einen Teil ihres Sonntags damit verbrachten, einen Angehörigen zu besuchen.
Bisher sind’s ja nicht besonders viele, bemerkte er: einige alte Herrschaften, ein Paar mittleren Alters, eine große Familie, die sich vermutlich zu einem Gedenktag einfand und danach in einem Restaurant an der Straße unten zu Mittag speisen würde. Die typischen Sonntagsbesucher.
Anschließend fuhr er weiter zu der alten Abteilung des Trinity-Friedhofs, parkte dort den Wagen und stieg aus. Nach einem schnellen Blick in die Gegend ringsum begann er die Grabsteine sorgfältig nach interessanten Inschriften abzusuchen. Es war schon mehrere Jahre her, seit er hier einen Abdruck genommen hatte, und es war ja gut möglich, daß er einige dabei übersehen hatte.
Er hielt sich etwas darauf zugute, daß sich sein Wahrnehmungsvermögen für subtile Details seit damals erheblich verfeinert hatte. Ja, dachte er, Grabmäler würden sich definitiv als Thema für die Fernsehserie eignen. Er würde mit einem Zitat aus Vom Winde verweht beginnen, das besagte, daß drei Jungen im Säuglingsalter, die sämtlich Gerald O’Hara, Jr. hießen, in der Familiengrabstätte auf dem Gut Tara begraben lägen. Oh, die Hoffnungen und Träume, die wir in Stein gemeißelt sehen, die langsam verblassen, mißachtet, nicht mehr gelesen, und trotzdem eine Botschaft überdauernder Liebe hinterlassen. Denk dir nur – drei kleine Söhne! Ja, genauso würde er diesen Vortrag beginnen.
Natürlich würde er dann unverzüglich vom Tragischen zum Heiteren übergehen, indem er von einem der Grabsteine erzählte, die er auf einem Friedhof auf Cape Cod entdeckt hatte und auf dem tatsächlich angezeigt wurde, daß das vormals von dem Verstorbenen geleitete Geschäftsunternehmen nunmehr von dessen Sohn weitergeführt werde. Sogar die neue Adresse war dort verzeichnet.
Earl runzelte die Stirn, während er sich umschaute. Obwohl es ein warmer und angenehmer Oktobertag war und obwohl er sein profitables Hobby gründlich genoß, so war er doch aufgebracht und wütend.
So wie sie es ausgemacht hatten, war Liam am Abend zuvor auf einen Drink zu ihm nach Hause gekommen, und dann waren sie gemeinsam zum Essen gegangen. Obwohl er seinen Dreitausend-Dollar-Scheck direkt neben der Wodka-Flasche auf der Bar hatte liegenlassen, wo man ihn unmöglich übersehen konnte, hatte Liam ihn bewußt ignoriert. Statt dessen hatte er wieder einmal betont, Earl solle doch lieber zum Golfspielen gehen, anstatt auf Friedhöfen herumzugeistern.
Herumzugeistern, also wirklich, dachte Earl, während sein Gesicht dunkler wurde. Ich könnte ihm zeigen, was es mit dem Herumgeistern auf sich hat, sagte er sich.
Und um nichts in der Welt würde er zulassen, daß Liam ihm noch einmal einschärfte, Maggie Holloway fernzubleiben. Das ging ihn schlicht und einfach nichts an. Liam hatte sich erkundigt, ob er sie getroffen habe, und als er Liam dann berichtete, er habe Maggie seit Montag abend nur auf dem Friedhof und natürlich bei Mrs. Shipleys Beerdigung gesehen, hatte Liam erklärt: »Earl, du und deine Friedhöfe. Ich mache mir allmählich Sorgen um dich. Das wird ja zu einer richtigen Zwangsvorstellung von dir.«
»Er hat mir nicht geglaubt, als ich versucht habe, meine Vorahnungen zu erklären«, murmelte Earl hörbar vor sich hin. »Er nimmt mich einfach nie ernst.« Er erstarrte plötzlich und schaute sich um. Da war niemand. Denk nicht mehr drüber nach, ermahnte er sich, zumindest nicht jetzt.
Er schritt die Pfade der ältesten Abteilung auf dem Friedhof entlang, wo einige der kaum mehr lesbaren Inschriften auf den kleinen Grabsteinen Jahreszahlen aus dem siebzehnten Jahrhundert zeigten. Er kauerte sich neben einen davon hin, der fast schon umgekippt war, und kniff die Augen zusammen, um die verblaßten Zeichen zu entziffern. Seine Augen leuchteten auf, als es ihm gelang, die Inschrift auszumachen: »Roger Samuels angelobt, aber zu Gott dem Herrn heimgerufen …« und dann die Daten.
Earl machte seinen Werkkasten auf, um einen Abdruck von dem Grabstein herzustellen. Einen weiteren diskussionswürdigen Aspekt in einem seiner Vorträge über Grabmäler würde das zarte Alter darstellen, in dem
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