Mondmädchen
Schweiß. Ein Priester stand über mir. Er las aus dem Buch der Toten und flehte die Götter für mich an:
Lasst mir nichts Böses zustoßen.
Erklärt mich für recht und wahr im Angesicht des Osiris.
Denn ich habe getan, was recht und wahr ist in Ägypten.
»Anubis ruft«, flüsterte jemand. Arme griffen nach mir. Andere wickelten mich in dickes, rotes Tuch, verbanden mir die Augen, fesselten mich. Ich konnte nicht atmen. Fremde Körper drückten mich zu Boden.
»Du musst sterben, bevor du wiedergeboren werden kannst«, hauchte mir die Priesterin ins Ohr. Jemand bedeckte meine Nase und meinen Mund. Wollten die Einbalsamierer, die Priester des Anubis, mich etwa bei lebendigem Leibe mumifizieren? Ich wand und krümmte mich. Mein Körper wehrte sich voller Wut und Schrecken. Luft, gebt mir Luft! Warum wollten sie mich töten? Ich schlug um mich, mein ganzes Sein verlangte nach Luft. Wirbelnde Lichtpunkte explodierten hinter meinen Augen.
Ich schwebte. Ruhe, Zeitlosigkeit. Kein Atem, kein Leben, kein Geräusch. Ein Meer von Nichts.
»Willkommen, Mondmädchen, Kleiner Mond«, sagte eine Frau.
»Mutter!«, jauchzte ich und versuchte, mich zu ihr zu wenden, doch ich bewegte mich, als wäre ich in flüssigem Bernstein gefangen. Mutter!
Sie trug das goldene Gewand der Isis, das sie auch an ihrem Todestag getragen hatte. »Ich bin die allgegenwärtige Mutter«, sagte sie und verwandelte sich in die wahre Göttin Isis mit ihrem Kranz von glitzernden Sternen und einer goldenen Scheibe auf dem Kopf. Ich warf mich ihr zu Füßen, eine Bewegung, die unendlich lange zu dauern schien.
»Lass mich bei dir bleiben, bitte«, flehte ich. »Schick mich nicht zurück.«
»Aber ich bin doch immer bei dir«, sagte die allumfassende Göttin.
»Nein, du hast mich verlassen!«, rief ich.
»Steh auf, Kind!«
Zitternd vor Angst erhob ich mich. Hatte ich sie erzürnt? Ich spürte, wie sie sich von mir wegbewegte. »Warte! Ich werde alles tun, was du verlangst. Aber bleib bei mir«, flehte ich.
»Ich bin immer bei dir«, flüsterte sie ins Nichts. »Du hast die Macht gewählt. Wo findest du sie?«
Stellte sie mich auf die Probe? Ich wollte die richtige Antwort geben. Ich dachte an meine Entscheidung in der ersten Vision. Darin waren Marcellus und Juba erschienen. Sollte ich mich für die Macht entscheiden, für die der eine oder der andere stand? Sollte ich das tun, was Mutter getan hatte, und mich mit Rom durch seine Anführer verbünden?
»Wo, mein Kind, wo kannst du deine Macht finden?«, fragte die Große Mutter noch einmal nach.
»Bei Marcellus?«, fragte ich. Hatte sie ihn deswegen in meiner Vision erscheinen lassen?
»Wo …?«, flüsterte sie noch einmal.
Und dann erst begriff ich. »Bei dir!«, rief ich aus, weil ich ihr nun endlich die gesuchte Antwort liefern wollte. »Die Macht liegt bei dir! Bei dir, meiner wahren Mutter. Bei der Göttin. Ich übertrage sie dir ganz!«
Aber sie war bereits verschwunden, das Echo ihres Seufzens senkte sich wie Nebelschwaden um mich.
~ Kapitel 35 ~
Als ich erwachte, lag ich auf der Seite, nackt und zusammengekauert wie ein Neugeborenes, eingehüllt in eine Decke aus dem weichsten Leinen. Meine Augenlider öffneten sich flatternd. Ich befand mich im Heiligtum der Großen Göttin zu Füßen ihrer riesigen Statue aus bemaltem Marmor. Ich starrte zu ihren geöffneten Armen empor und zu ihrem leicht geneigten Haupt mit dem Lächeln, das alle willkommen hieß. Jemand hatte ein blaues Tuch über den Kopf der Statue gelegt, das ihre Haare umhüllte. Rosen bedeckten ihre Füße, süß duftend, üppig und geheimnisvoll.
Isetnotfret, die Priesterin der Isis, stand vor der Statue und reckte der Göttin die Arme entgegen. »Nimm diese Menschen, die dir nunmehr ihr Leben geweiht haben, in deinen Schoß auf, oh große Mutter. Du hast sie einen Schluck aus dem Becher des Todes trinken lassen und ihre Wiederkehr gesegnet. Sie wurden im Licht wiedergeboren, wiedergeboren zu einem neuen Leben unter deinem Schutz.«
Ab jetzt gehöre ich der Göttin , dachte ich. Dann lächelte ich. Ich hatte schon immer zu ihr gehört.
Nach Dankgebeten, dass wir unsere Reise überlebt hatten, und nachdem wir die safrangelben Tuniken der frisch Initiierten angelegt hatten, feierten wir bei einem Festmahl mit den anderen Anhängern der Göttin in einem Bankettsaal, der beinahe überquoll mit Essen. Ich lag auf einer Liege bei den anderen Neulingen und wir drei lächelten uns schüchtern an.
»Komm mit
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