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Mondmädchen

Mondmädchen

Titel: Mondmädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boje Verlag
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Redewendung«, sagte der Rabbi mit einer schnellen Handbewegung. »Entscheidend ist der Gedanke, dass Gott uns segnet, wenn wir ihm nachfolgen, aber wenn wir uns von ihm abwenden, werden wir vernichtet werden. Jeder Mensch muss sich jeden Tag neu entscheiden.«
    »Das ist gar nicht so viel anders als das Wiegen der Herzen, die Prüfung, die wir laut Osiris bestehen müssen«, bemerkte Alexandros. »Wenn wir nach der Ma’at leben, dann wird uns der böse Dämon Amut nicht verschlingen.«
    Der Rabbi schwieg eine Weile. »Es ist etwas anderes. Es gibt keine Tier-Gottheiten, es gibt nur den einen Gott.«
    »Und was sagt die griechische Überlieferung?«, fragte uns Euphronius, so als wollte er das Thema wechseln.
    »Dass wir unserem Schicksal nicht entkommen können«, gab ich zur Antwort. » Hybris, das große Verbrechen gegen die Götter, war es, zu denken, dass wir das könnten. Und Hybris hat auch die besten Männer zu Fall gebracht, so wie Achilles und Oedipus.«
    Mein Lehrer nickte. Ein Sklave trat herein und goss uns Wasser mit Wein in Becher aus Ton. »Es gibt viele Sklaven, die ein gutes Leben führen«, sagte ich zu dem Rabbi. »Aber die meisten haben sich nicht selbst dazu entschieden, Sklaven zu sein. Und sie können auch nicht beschließen, dass sie keine Sklaven sein wollen. Haben sie demnach keinen freien Willen? Beweist das nicht, dass unser Schicksal immer schon vorherbestimmt ist? Genau wie bei Alexandros und mir – dass ich über Ägypten herrschen werde und er über Parthien – genau wie der Sklave immer Sklave bleiben wird?«
    »Nein », lächelte der Rabbi, »denn selbst der Sklave kann sich entschließen, Gott zu gehorchen. Es ist unsere einzige Aufgabe, seinen Geboten zu folgen, ganz gleich unter welchen äußeren Umständen.«
    Ich war verwirrter denn je. Wie konnte es den freien Willen geben, wenn zugleich die einzige Aufgabe der Gehorsam war?
    »Es wird spät, Kinder. Wir müssen zurück«, sagte Euphronius. Und der Rabbi kam zum Schluss, indem er erklärte, dass ein neues Zeitalter die Menschheit erwartete – dass die Juden auf einen Mann warteten, den sie den Mashiach nannten. Einen Retter der Menschen, einen Gottesmann, der allen Kämpfen eine Ende machen und die Menschheit vereinen würde.
    »Könnte dieser Mashiach auch eine Frau sein?«, fragte ich.
    Alexandros kicherte und Iotape gab ihm einen Stups mit dem Ellenbogen.
    »Wohl nicht«, gab der Rabbi zur Antwort.
    »Warum nicht?«
    »Nun … weil die Propheten sagen, dass der Mashiach ein Mann sein wird.«
    »Aber wenn euer Gott den Glauben und Gehorsam seines Volkes wirklich prüfen wollte, dann könnte er doch ebensogut eine Frau schicken, oder?« Wie immer dachte ich nur an Mutter. Wenn Mutter die »Königin der Könige« sein konnte, warum konnte dann nicht eine andere große Frau ihr Mashiach sein?
    »Theoretisch ja …«
    »Prinzessin«, unterbrach Euphronius, in dessen Stimme ein Ton von Ermüdung mitschwang. »Wir wollen unserem so großzügigen Gastgeber nicht zur Last fallen. Lasst uns diese Fragen bis zum nächsten Mal verschieben.«
    »Aber die Juden sind nicht die Einzigen, die sagen, dass ein großes Zeitalter kommen wird«, warf Alexandros ein. »Wisst ihr noch, dass der römische Dichter Vergil sagt, ein Junge würde uns in ein goldenes Zeitalter führen und über eine mit Frieden gesegnete Welt herrschen.«
    In unserem Lateinunterricht hatten wir die vierte Ekloge des römischen Dichters Vergil gelesen, und Alexandros hatte sich einen Spaß daraus gemacht zu behaupten, er sei dieser »Goldene Knabe«, von dem in dem Gedicht die Rede war. Immerhin war er es doch, der nach der Sonne benannt war, oder?
    Ich schaute zu Iotape hinüber. Sie hatte die Arme verschränkt vor Verärgerung über meinen Bruder. Das stimmte mich ihr gegenüber endlich einmal freundlich. Doch bevor ich etwas erwidern konnte, sagte Alexandros: »Ich wiederhole, Schwester, in dem Gedicht heißt es ›Knabe‹, nicht ›Mädchen‹.«
    Ich streckte die Hand aus, um ihm in die weiche Unterseite seines Oberarms zu kneifen. »Du eingebildeter, kleiner …«
    »Kinder!«, rief Euphronius. »Ich glaube wirklich, es wird Zeit, dass wir uns von unserem verehrten Gastgeber verabschieden.«
    Alexandros’ Angeberei und meine Erlebnisse in dem jüdischen Tempel öffneten mir die Augen für die Tatsache, dass die meisten Männer Frauen als geringer ansahen. Und das, obwohl ich im Schatten der mächtigsten Frau der Welt aufgewachsen war und gesehen hatte, wie

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