Mondmädchen
keine Blumen und baten uns nicht um unseren Segen, wie die meisten Leute es taten. Stattdessen bemühten sie sich, uns nicht zu beachten. Ich hatte noch gar nicht darüber nachgedacht, bevor Iotape uns darauf aufmerksam machte.
»Sie erweisen euch keine Ehre«, sagte sie in ihrem vom Singsang ihres Akzents gefärbten Griechisch. »Warum ist das so?«
»Die Religion der Hebräer«, erklärte Euphronius, »verbietet ihnen, irgendwelche Götzen anzubeten, was sie auch auf die Verehrung von Königen beziehen.«
Ich setzte mich überrascht auf. »Willst du damit sagen, dass sie Mutter nicht als ihre Königin und Caesarion nicht als ihren König anerkennen?«
»Sie behaupten, dass ihr Gott es ihnen verbietet«, sagte Euphronius. »Die Juden von Alexandria sind ein gelehrtes Völkchen, aber ihr Glauben ist seltsam. Dazu gehört auch, dass sie an einen einzigen, männlichen Gott glauben, der oft ziemlich eifersüchtig und wütend ist.«
»Aber warum lässt Mutter das zu?«, fragte ich. »Es ist mir egal, was sie glauben. Sie sollten sich vor ihr verneigen.«
»Ich habe nicht gesagt, dass sie die Königin nicht ehren. Das tun sie – auf ihre eigene Art und Weise. Und so solltet auch ihr von der Weisheit der Königin lernen. Sie zwingt sie nicht, gegen ihren Glauben zu handeln, und erwirbt sich dadurch ihre Ergebenheit und Unterstützung …«
»Ganz zu schweigen von ihren Steuern«, warf Alexandros ein.
»Ja, und genau deswegen ist sie so eine hervorragende Regentin«, fügte Euphronius hinzu. »Die Königin ist eine wahre Philosophin in dem Sinne, in dem Aristoteles euren Vorfahren Alexander den Großen erzogen hat.«
Wir kamen bei einem kleinen Gebäude aus Ziegelsteinen an, das Euphronius als den Tempel der Juden bezeichnete, obwohl ich es nie dafür gehalten hätte. In unserem Tempel der Isis hatten wir mächtige Messingtore, die sich wie durch die unsichtbare Hand der Göttin öffneten – dank der mit Feuer betriebenen Maschinen, welche die Wissenschaftler in unserem Museion erfunden hatten. Drinnen reckten sich Dutzende von Lotossäulen dreißig Ellen hoch in den Himmel. Das Morgenlicht, das durch das Sonnengitter des Daches fiel, ließ die Hieroglyphen aus Blattgold an den Wänden in überirdischer Schönheit erglänzen. Riesige bemalte Götterstatuen ragten auf, um uns an ihre Macht, ihre Majestät und ihr Mysterium zu erinnern. Im Gegensatz dazu wirkte der Tempel der Hebräer, mit Ausnahme der Marmorsäulen in der Eingangshalle, als hätten wir ein bescheidenes Wohnhaus betreten. Keine Gemälde oder Statuen von Göttern oder Göttinnen schmückten die Wände, in denen es keine Nischen gab, in die man sich zu einem Zwiegespräch mit den Göttern zurückziehen konnte. Nur eine heilige Flamme am Altar deutete darauf hin, dass es sich hier um eine Stätte der Andacht handelte.
Ein freundlich aussehender alter Mann mit einem langen, glatten, grauen Bart begrüßte uns. »Willkommen, willkommen!«, sagte er und um seine Augen erschienen freundliche Fältchen. Er führte uns in einen Nebenraum, fort von einer Gruppe von Männern, die voller Inbrunst mit geschlossenen Augen beteten, dabei die Lippen bewegten und sich leicht vor und zurück neigten.
»Ich bin Rabbi Yoseph ben Zakkai«, sagte er. »Ich habe meinen guten Freund, euren ehrenwerten Lehrer in der Bibliothek kennengelernt, wo er und ich vor vielen Jahren über die Natur des Göttlichen debattiert haben.«
Es überraschte mich immer wieder, dass unser Lehrer ein Leben außerhalb unseres Unterrichts besaß. Dass Euphronius tatsächlich Freunde hatte, schockierte mich geradezu.
»Und wer hat die Debatte gewonnen?«, fragte Alexandros.
»Er!«, sagten beide Männer gleichzeitig und deuteten lachend auf den jeweils anderen.
Nachdem wir uns im Tablinum des Rabbis niedergelassen hatten, hob er an: »Wie mein Freund mir berichtet hat, sollen seine jungen Zöglinge etwas mehr über die Welt erfahren.«
Mir widerstrebte der Unterton, so als wären wir ahnungslose, verwöhnte, überbehütete kleine Kinder.
Der Rabbi räusperte sich und begann die Grundlagen seines Glaubens zu erklären. »Es gibt nur einen Gott, der die Welt geschaffen hat und sie regiert«, sagte er. »Er ist allwissend und allmächtig und allgegenwärtig. Außerdem ist er gerecht und gnädig.«
»Und wer ist seine Gemahlin?«, fragte ich und dachte dabei an Isis und ihren Mann Osiris. »Wie ist sie?«
»Unser Gott hat keine Gemahlin. Es gibt keine Göttin. Hashem hat die Welt erschaffen
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