Mondmilchgubel Kriminalroman
einatmen?«
»Nein.«
Jung zeigt nach unten auf den abgesägten Baumstamm. »Darauf hat sie sich immer gesetzt, wenn sie sich dort unten aufgehalten hat. Sie nannte es ihren Thron.«
»Verstehe.«
»Hat sich Iris denn überhaupt nicht gewehrt?«
»Wir haben keine Kampfspuren gefunden. Allerdings werden wir mehr wissen, sobald die Ergebnisse vom Labor vorliegen. Vielleicht findet man Hautfetzchen oder Ähnliches unter ihren Fingernägeln.« Er beobachtet, wie Jung nach ihrer Wasserflasche greift und sie in einem Zug leert.
»Ich könnte mir vorstellen, wie es geschehen ist.«
»Da bin ich aber gespannt«, erwidert er spöttisch.
»Iris ist zuerst hierhergekommen, um die Blume zu deponieren und ihre Wasserflasche aufzufüllen. Danach ist sie wie üblich am Seil nach unten geklettert und hat sich auf den Holzstamm gesetzt, um dort zu meditieren. Der Täter hat sie von irgendwo dort oben«, Jung zeigt nach rechts, »beobachtet und den für ihn richtigen Moment abgewartet. Durch das Rauschen des Wasserfalls konnte er sich ihr unbemerkt nähern. Iris ist sicher fürchterlich erschrocken, als er dann plötzlich vor ihr auftauchte. Vielleicht war es gar nicht seine Absicht, sie zu töten. Vielleicht ist er zornig geworden und hat sie im Affekt erdrosselt.«
»Man könnte meinen, Sie wären dabei gewesen«, neckt er Jung.
»Soll ich Sie nach Zürich begleiten, damit Sie mich erkennungsdienstlich, so sagt man doch, behandeln können?«
»Eine gute Idee. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre Aussage zu Protokoll geben würden. Mein Stellvertreter wird Sie im Kripogebäude noch einmal befragen.«
»Warum nicht Sie?«
»Jeder stellt andere Fragen, die wiederum andere Erinnerungen auslösen. Manchmal ist die Art der Frage ausschlaggebend für eine Antwort, die uns weiterbringt. Vielleicht erinnern Sie sich plötzlich an Dinge, die Sie mir noch nicht gesagt haben.«
»Einverstanden«, erwidert Jung kurz entschlossen.
Er lässt seinen Blick umherschweifen. »Ich kann verstehen, dass es Ihrer Freundin hier gefallen hat.«
»Wann werden Sie diesen Bruno vernehmen?«
»Sobald wir ihn gefunden haben.«
»Wissen Sie inzwischen seinen Nachnamen?«
»Ja, er heißt Edelmann. Das Sekretariat der Höhenklinik hat uns mitgeteilt, dass er vor einer Woche seinen letzten Arbeitstag hatte.«
»Das darf doch nicht wahr sein.«
»Keine Sorge, wir werden den Burschen finden.«
»Am Montag war er jedenfalls noch hier in Wald. Wenn Sie mich fragen, so weist alles darauf hin, dass er der Täter ist.«
»Ein bisschen voreilig, Ihre Schlussfolgerung. Finden Sie nicht?«
»Wir werden sehen.«
»Kennen Sie Manuel Vinzens persönlich?«
»Ja. Er ist seit Jahren mein Therapeut. Wenn ich ein Leiden habe, gehe ich zu ihm. Er kann mir meistens helfen.«
»Haben Sie Iris Brunner mit ihm bekannt gemacht?«
»Iris litt unter Heuschnupfen. Ich habe ihr Manuel empfohlen, weil er ein exzellenter Kinesiologe ist. Es war Liebe auf den ersten Blick.«
Er schaut sie belustigt an.
»Ob Sie es glauben oder nicht, aber so was gibt es tatsächlich.«
»Ja … ich weiß. Wie lange waren die beiden schon liiert?«
»Seit Anfang des Jahres.«
»Wusste Brunner über diese Liaison seiner Frau Bescheid?«
»Warum fragen Sie ihn nicht selbst?«
»Das habe ich bereits getan. Er behauptet, dass seine Frau keine Affäre gehabt hat.«
»Ich bin gespannt, wie er darauf reagieren wird, wenn er die Wahrheit erfährt. Wurde die Presse schon informiert?«
»Ja. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es besser ist, offensiv zu kommunizieren.«
»Das Interesse der Medien wird in diesem Fall hoffentlich nicht allzu groß sein.«
»Ich gehe davon aus, dass im Zürcher Oberländer und im Tages-Anzeiger ein paar Zeilen erscheinen werden.«
»Hoffentlich ohne Bild vom Tatort. Was ist mit dem Fernsehen?«
»Bei einem derartigen Tötungsdelikt besteht in der Regel nur lokales Interesse.« Sein Pager ertönt. Er liest die Nachricht auf dem Display. »Ich muss zurück nach Zürich. Kommen Sie.«
Eine Stunde später wird Viktoria Jung im Kripogebäude Zürich von Sachbearbeiter Eisenmann ausgehorcht. Die Befragung geht zügig vonstatten. Er lässt sich durch keine ihrer Äußerungen ablenken. Am Schluss druckt der Kripo-Beamte mit dem Poker-Gesicht das Protokoll aus, reicht es ihr mit der Bitte, alles in Ruhe durchzulesen und jede Seite mit ihrem Kürzel zu versehen.
Kapitel 6
Dem Tages-Anzeiger ist Iris’ Tod nur zwei Zeilen wert. In der
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