Mondmilchgubel Kriminalroman
Lucien starb. Hätte sie ihn an jenem Tag nicht allein gelassen, hätte eine Ambulanz ihn vielleicht noch rechtzeitig ins Spital bringen können. Sie nippt an ihrem Wein, lässt ihm Zeit, sich zu fassen. »Wie hat sich Iris gefühlt, als du dich von ihr verabschiedet hast?«
»Sie schien glücklich.«
»Wann genau hast du sie nach Hause gefahren?«
»Es war spät. Kurz vor drei Uhr morgens. Sie hat mich gebeten, sie beim Bahnhof abzusetzen. Sie wollte den Rest des Weges unbedingt zu Fuß gehen.«
»Hast du danach noch etwas von ihr gehört?«
»Ja, am nächsten Morgen.«
»Wann?«
»Kurz nach zehn. Sie war auf dem Weg zum Mondmilchgubel.«
»Hat sie etwas von einem Streit gesagt?«
»Nein, aber ihre Stimme hörte sich irgendwie anders an.«
»Worüber habt ihr euch unterhalten?«
»Ich wollte sie zum Mittagessen einladen, aber sie sagte, dass sie am Mittag für ihren Mann kochen müsse und am Abend bei dir zum Essen eingeladen sei. Sie versprach, mich am Nachmittag nochmals anzurufen. Doch dazu ist es nicht mehr gekommen.«
»Vielleicht hat Kuno in dieser Nacht auf sie gewartet und sie zur Rede gestellt. Normalerweise kam Iris ja nie so spät nach Hause.«
»Ja, vielleicht.«
»Hat Iris dir gegenüber je erwähnt, dass ihr Mann sie geschlagen hat?«
»Nein.«
»Wutausbrüche, die er an ihr ausgelassen hat?«
»Er war manchmal schlecht gelaunt, aber von Wutausbrüchen hat sie nie etwas gesagt.«
»Hat sie dir sonst noch etwas anvertraut, als sie dich angerufen hat?«
Er schüttelt den Kopf.
Sie berührt seine Hand. »Bitte denk nach.«
Wieder ein stummes Kopfschütteln.
»Sie hat nicht zufälligerweise einen Bruno Edelmann erwähnt?«
»Doch, ihn hat sie kurz erwähnt. Sie sagte, dass er ihr wieder durchs Sagenraintobel gefolgt sei, sie ihn aber habe abschütteln können.«
»Das musst du unbedingt Möller erzählen.« Sie schiebt ihm ihr Handy zu. »Jetzt gleich. Die Nummer ist gespeichert.«
»Das wird Iris auch nicht wieder lebendig machen«, wehrt er ab.
»Bitte, Manuel. Ich hole uns inzwischen eine Kleinigkeit zu essen.«
Als sie mit Oliven, Käse und Brot zurückkehrt, sitzt er regungslos da und starrt ins Leere.
»Manuel, ich weiß, wie unerträglich die ganze Situation für dich ist.«
»Warum dann all diese Fragen?«
»Ich will, dass der Täter gefasst wird. Verspürst du denn überhaupt keine Rachegefühle? Willst du denn nicht, dass dieser Dreckskerl bestraft wird?«
»Ich möchte einfach nur in Ruhe gelassen werden. Kannst du das denn nicht verstehen?«
Sie seufzt. »Doch.«
»Ich werde für ein paar Tage in die Berge fahren.«
»Ja, tu das. Es wird dir guttun.« Sie füllt sein Glas zum dritten Mal. »Ist der Eierkari dir ein Begriff?«
Er nickt.
»Iris hat dir nicht zufälligerweise am Telefon mitgeteilt, dass sie sich mit ihm im Mondmilchgubel treffen wollte?«
Er überlegt. »Nein, aber ich weiß, dass sich die beiden ab und zu dort getroffen haben.«
»Kennst du die Höhle?«
»Nein, es hat sich nie ergeben.«
»Kennst du eine Lisa Kesselring?«
»Ja, sie ist eine Freundin von mir. Ich habe Iris Anfang des Jahres zu einem ihrer Erdbewusstseinsseminare mitgenommen.«
»Erdbewusstseinsseminar?«
»Lisa geht davon aus, dass die Erde nicht bloß ein Klumpen Biomasse ist.«
»Sondern?«
»Sondern ein unermesslich schöpferisches und unendlich weises Bewusstsein. Sie ist der Auffassung, dass es an der Zeit ist, dass wir Menschen lernen, mit der Erdseele zu kommunizieren, um den ökologischen Zusammenbruch zu vermeiden.«
»Worum ging es im Seminar konkret?«
»Sie zeigte uns, wie jeder Einzelne die Stimme der Natur wahrnehmen und sich mit ihr verbinden kann. Wir lernten auch Übungen, die helfen, unsere Einstellung zur Erde zu verändern und unsere Beziehung zur Natur zu stärken.«
»Interessant. Wusstest du, dass Iris und Lisa enger befreundet waren?«
»Die beiden haben sich auf Anhieb gut verstanden. Ich glaube jedoch nicht, dass sie sich oft gesehen haben. Lisa reist für ihre Seminare in der ganzen Schweiz herum.«
»Ich finde es eigenartig, dass Iris mir nie von ihr erzählt hat.«
Er quittiert ihre Ungewissheit mit einem Schulterzucken.
»Manchmal konnte Iris ganz schön verschwiegen sein«, erwidert sie betrübt. »Hat sie in eurer letzten Nacht eine Halskette getragen?«
Er nickt.
»Was für eine?«
»Ich habe ihr eine Kette aus blauen Azuritsteinen geschenkt. Sie bestand darauf, sie sich sofort umzulegen.«
»Hast du Möller von dieser Kette
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