Mondmilchgubel Kriminalroman
Iris war scheu und zurückhaltend gewesen, so ganz anders als ihre Freundinnen in Zürich. Sie hatte sich spontan zu ihr hingezogen gefühlt. Sie versucht, sich an den Inhalt des Buches zu erinnern, aus dem der Autor vorgelesen hatte. Irgendetwas mit halluzinogenen Pilzen. Danach trafen sie sich regelmäßig. Dass Iris nicht in ihrem alten Leben herumstocherte, rechnete sie ihr hoch an. Häufig unternahmen sie ausgedehnte Waldspaziergänge, und so lernte sie die Gegend kennen. Iris kannte die Namen sämtlicher Pflanzen und Bäume, während sie damals eine Buche nicht von einer Eiche unterscheiden konnte, geschweige denn wusste, wie eine Wegwarte oder eine Kornblume aussieht. Ein Lächeln huscht über ihr müdes Gesicht. Ja, am zugänglichsten war Iris immer beim Wandern gewesen.
Das Knarren des Fußbodens lässt sie zusammenfahren. Sie flucht leise, müht sich auf und geht nach draußen. Durchsichtig und weit glänzt der Himmel. Ein heißer Tag kündigt sich an. Die Amsel auf dem Apfelbaum trillert wie jeden Morgen ihr Lied, doch heute stimmt ihr Ruf sie melancholisch. Als Raul sie von hinten umarmt und ihr an die Brüste greift, stößt sie ihn weg.
»Zieh dich an«, faucht sie ihn an.
»Nanu, bis jetzt hat dich meine Nacktheit noch nie gestört«, schmollt er.
Zum Glück verschwindet er im Haus. Als Morgenmuffel widerstrebt es ihr, zu solch früher Stunde Erklärungen abgeben zu müssen. Gewöhnlich braucht sie mehrere Tassen Kaffee, bevor sie ansprechbar ist. Vor allem, wenn sie am Abend zuvor zu viel Wein getrunken hat. Heute jedoch wird der Kaffee allein nicht ausreichen, um den Tag zu überstehen.
Raul macht sich pfeifend in der Küche zu schaffen. Sie drängt ihn, sich endlich etwas überzuziehen. Er zuckt lässig die Schultern und verschwindet nach oben. Wenigstens hört er auf zu pfeifen. Während er wenig später eine Brotschnitte nach der andern in sich hineinschiebt, kaut sie lustlos an einem Stück Toast herum.
»Diese wilde Gegend hier kommt mir irgendwie unheimlich vor«, bemerkt Raul auf dem Weg zum Mondmilchgubel. »Hier möchte ich von keinem Gewitter überrascht werden.«
Er geht so schnell, dass sie ihm kaum folgen kann. Soll er doch, denkt sie, und verlangsamt ihren Schritt.
»Hier wimmelt es ja nur so von Gießen.« Er zeigt nach oben. »Schau, da sind sogar mehrere Wasserfälle übereinander. Eigentlich erstaunlich, dass es bei uns kein Waterfall Trekking gibt, findest du nicht? Da könnte sich mancher Bergbauer etwas dazuverdienen.«
»Möglich«, antwortet sie missmutig. »Zumindest ließen sich viele Dichter und Denker von Wasserfällen inspirieren.«
Beim liegenden Ahorn verlassen sie den Wanderweg. Schweren Herzens folgt sie ihm in die Höhle. Niemals mehr wird sie diesen Ort betreten können, ohne dabei an den Tod zu denken.
Raul macht ein paar Aufnahmen. »Richtig wohnlich hier.« Er deutet auf das aufgeschichtete Stroh. »Sollen wir heute da übernachten? Zu zweit nehmen wir es locker mit den hiesigen Geistern auf.«
»Meine Freundin wurde hier zu Tode gewürgt. Wie kannst du es wagen!«
Er hebt abwehrend seine Hände. »Sorry. Was ist mit der Sage, die man sich von diesem Ort erzählt?«
»Die kannst du im Sagenbuch nachlesen.« Sie öffnet ihren Rucksack. »Hier, nimm.«
»Du hast versprochen, sie mir vorzulesen«, murrt Raul. »Erinnerst du dich?«
»Das war gestern. Heute gilt das Versprechen nicht mehr.«
»Okay, ich hab’s kapiert.«
Plötzlich tut er ihr leid. »Also gut.«
Zu Vater Oberholzer in der Sonnwies im Oberholz kam einmal bei eintretender Nacht ein Venedigermannli und sagte, es habe in seinem Zauberbuch gelesen, dass es hinten an der Töss einen Felsen gebe, der mit einer eisernen Tür verschlossen sei. Hinter dieser Türe liege ein Schatz vergraben. Oberholzer schaute sich das Männchen eine Weile an und antwortete ihm, er kenne den Felsen wohl, das sei der Mondmilchgubel. Der Schatzgräber bat daraufhin den Sonnenwiesler, er möge ihm den Weg dorthin zeigen, es solle sein Schaden nicht sein. Nachts um zwölf solle er dort sein. Oberholzer bedachte sich nicht lange, denn er litt an Schätzen keinen Überfluss.
Auf den Schlag der Mitternachtsstunde standen die beiden vor der eisernen Türe.
»Siehst du eine eiserne Türe?«, wird sie von Raul unterbrochen.
Sie ignoriert seine Frage und liest lustlos weiter.
Der Venediger befahl dem Begleiter, von jetzt an den Mund zu halten, was auch immer geschehen möge. Dann klopfte er
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