Mondpapier und Silberschwert (Die Sumpfloch-Saga) (German Edition)
geworden war, wenn sie das Silberschwert fand? Das silberne Nichts – sie war so nah dran gewesen! Lisandra hatte es fast mit ihrem Schnabel berührt.
In Gedanken ging Lisandra noch einmal die silbernen Lektionen durch. Yu Kon hatte ihnen nur wenige Anweisungen gegeben: Findet eure größte Schwäche! Lasst euch von ihr verschlingen ! Begebt euch in eine Situation, in der ihr hilflos seid!
Im Grunde war Lisandra immer hilflos, auch wenn sie kein Vogel war. Sie konnte kämpfen, ja, aber die wichtigsten Dinge ließen sich nicht mit Waffen erobern. Die Liebe von Haul, die Zuneigung von Geicko, die Fürsorge ihrer Mutter, die Freundschaft von Thuna, Maria, Scarlett und Berry, das Leben in Sumpfloch – all das musste Lisandra geschenkt werden, freiwillig, oder sie bekam es nie. Genauso wie das silberne Nichts. Wenn es um die wirklich bedeutsamen Dinge im Leben ging, war jeder Mensch hilflos. Das Einzige, was man tun konnte, war, es einzusehen. Es nicht zu leugnen und tapfer schwach zu sein .
Während Lisandra am See saß und endlich verstand, wa s Yu Kon ihr gepredigt hatte und worum sich die silberne Lehre eigentlich drehte , verwandelten sich die Libellen und das Schilfgras, der Himmel und das Wasser, Lisandras Gesicht und der Wind, der es streichelte, in nichts anderes als silbernes, wunderschönes Nichts! So sah es aus und so fühlte es sich an – für ungefähr ein, zwei, drei Augenblicke.
In diesen drei Augenblicken wusste Lisandra nicht, wo sie anfing und wo sie aufhörte. Alles war nichts und das Nichts war alles. Als der vierte Augenblick begann, blinzelte Lisandra mit den Augenlidern und plötzlich war alles wieder so, wie es vorher gewesen war. Mit dem kleinen Unterschied, da s s im flachen Wasser des Sees ein Einhorn stand, das versuchte, sein Spiegelbild mit dem Horn zu berühren und immer wieder erschrak, weil das Bild im Wasser durch die Berührung erschüttert wurde.
„Ein Einhorn?“, wunderte sich Lisandra.
Es gab Einhörner in Amuylett. Doch sie lebten in den tiefsten aller tiefen Wälder und es hieß, es gäbe nicht mehr viele von ihnen. Was die meisten Bewohner von Amuylett nicht weiter tragisch fanden, denn es waren ja nur weiße Pferde mit einem Horn auf der Stirn und an die alten Geschichten, wonach diese Hörner besondere magikalische Kräfte haben sollten, glaubte niemand mehr, da diese Annahme wissenschaftlich widerlegt worden war. Das wiederum war gut für die Einhörner, da sie nicht mehr gejagt wurden.
All das wusste Lisandra von Thuna, die Einhörner wie die meisten Mädchen sehr interessant fand, und alles darüber gelesen hatte, weil sie hoffte, im bösen Wald auch mal auf ein Einhorn zu treffen. Lisandra waren Einhörner grundsätzlich egal. Oder bisher waren sie ihr immer egal gewesen, doch dieses Geschöpf, das da im Wasser stand, rührte sie. Es war anders als jedes andere Tier, das sie kannte. Sie liebte es. Anders ließ es sich nicht beschreiben. Sie liebte es von ganzem Herzen.
„He, du!“, rief Lisandra freundlich und behutsam. „Bist du etwa das Silberschwert?“
„Sie kann nicht sprechen!“, erklärte eine Stimme hinter Lisandra.
Lisandra drehte sich um und erblickte einen Mann, der … nun ja … in einem Handbuch für Götter nicht fehl am Platz gewesen wäre. Was es nun genau war, was Lisandra an ihm so göttlich vorkam, wusste sie nicht. Oder doch! Sie hatte schon mal ein Bild von ihm gesehen. In einem Buch über Götter!
„Nicht erschrecken!“, sagte er. „Ich bin nur eine Erinnerung von ihr.“
„Von dem Pferd? Dem Einhorn, meine ich?“
„Ja, von Silberklinge. So hieß sie in der Sprache der Faune. Ich habe es mit Silberschwert übersetzt, weil ich dachte, dass Yu Kon dieser Name besser gefällt.“
„Sind Sie Otemplos? Der Titan des Anbeginns?“
„Eigentlich bin ich nur ein Mensch. Genauso wie du. Wie heißt du?“
„Lisandra.“
„Ein hübscher Name.“
„Hm, danke.“
„Ist es denn schon soweit?“
„Was?“, fragte Lisandra. „Wie weit?“
Otemplos lachte und mit seinem Lachen verflog Lisandras Beklommenheit.
„Du wüsstest, wovon ich spreche, wenn es soweit wäre! Weißt du, es ist so, dass Silberklinge zwischen dem Anfang und dem Ende hin- und herläuft. Und da ich für den Anbeginn stehe, dachte ich, du bist vielleicht …“
„Das Ende? “
„Aber die Welt gibt es noch, wie ich sehe!“
Otemplos sah sich in der Frühlingslandschaft um und dabei strahlte sein Gesicht so hell wie die Sonne. Er sah nett aus.
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