Mondpapier und Silberschwert (Die Sumpfloch-Saga) (German Edition)
doch, Kinder! So ein idyllisches Örtchen im Lampenschein!“
Maria, die Glückliche, war immerhin mit einem gesunden Schlaf gesegnet. Sie verschlief den größten Teil dieser Nächte, erschreckte aber jedes Mal aufs Heftigste, wenn ihr Vater sich zu ihr vorbeugte und ihr ins Ohr brüllte:
„Maria, schau doch mal, wie toll das schneit! Ist das ein idyllisches Örtchen!“
Thuna hatte Mühe, in den kalten Nächten zu schlafen, auch wenn sie in mehrere Felle eingewickelt war und der Schlitten, wenn er mal fuhr, sanft schaukelte. Die Nacht, die tief verschneiten, einsamen Landstriche, durch die sie fuhren, die merkwürdigen Gestalten, denen sie in den Dörfern begegneten, und deren grobe Gedanken, die sie so laut wahrnahm, dass sie kaum weghören konnte, all das wühlte Thuna auf. Ihr Herz klopfte beständig, gar nicht aus Furcht, sondern weil sie das Leben in diesen Nächten so deutlich spürte.
Die wilde, geheimnisvolle Natur, die man an dunklen, entlegenen Orten fühlen kann, wenn kein grelles Licht und keine Vernunft sie eindämm t oder zähmt , war Thunas wahre Stimme und ihre eigentliche Kraft. Das hatte sie im letzten Herbst gelernt. Was aber nicht hieß, dass sie wusste, wie sie ihre wahre Stimme und ihre brave, alltägliche Stimme miteinander in Einklang bringen sollte. Sie war es gewohnt, anständig und überlegt zu handeln. Doch seit sie mit Grohann im bösen Wald gewesen war und Pollux in seine neue Heimat gebracht hatte, brodelte etwas in ihr.
Da waren starke Gefühle und Sehnsüchte, da war ihr Herzschlag, der danach verlangte, in den bösen Wald zurückzukehren, den geflügelten Löwen zu kraulen, mit dem Nebelfräulein zu wandern und mit Grohann zu sprechen, ohne Wörter zu benutzen. Es gab da ein Leben, das nach Thuna rief und ihr sagte, wer sie wirklich war. Aber es war ein wildes Leben. Zu wild für den Seelenfrieden der braven Thuna. So überkamen sie immer wieder in diesen Ferien heftige Gefühle, die sie kaum einzuordnen wusste, und am aufregendsten waren sie, als Thuna im Schlitten saß und das Keuchen der Wölfe hörte. Wie sie rannten und jagten, wie ihre Herzen schlugen und ihre Seelen hungerten, in den seltenen, sternenklaren Momenten unter dem funkelnden Himmel über dem stäubenden Schnee. In diesen Momenten wusste Thuna, dass sie eine Fee war und dass das alltägliche Leben, wie sie es einmal gekannt und für selbstverständlich gehalten hatte, dabei war, sich in Nichts aufzulösen.
Doch all diese Gefühle und Gedanken verschwieg Thuna ihren Freundinnen. Sie erzählte nur, dass sie in den drei Nächten kein Auge zugetan hatte und auch tagsüber in den lauten Pensionen, in denen sie wohnten, nicht richtig hatte schlafen können.
Die letzte Nacht war besonders kalt gewesen. Je näher sie Sumpfloch kamen, desto höher waren die Schneewehen gewesen und desto stärker hatte der Wind geblasen. Es wurde so viel Schnee aufgewirbelt, dass man fast nichts mehr sehen konnte , und die Wölfe rannten ins weiße Nirgendwo, ihren Instinkten und ihrem Geruchssinn vertrauend. So kam es, dass der Schlitten fast einen Wanderer umgefahren hätte, der mitten in der Nacht im schlimmsten Schneegestöber auf der Landstraße unterwegs gewesen war.
„Es war ein alter Mann“, erzählte Thuna, „mit einem weißen Zopf und einem langen Bart. Er trug keinen Hut und keine Mütze, nur einen Mantel ohne Kapuze. Gepäck hatte er auch nicht. Das Einzige, was er dabei hatte, war ein Stock, den er hin- und herschwang, als könnte er damit den Schnee vertreiben.“
Da der Wanderer nicht beiseite trat und die Wölfe ihm auswichen, geriet der Schlitten ins Trudeln, kam von der Straße ab und landete in einem Haufen Schnee am Wegesrand. Der Schlittenführer fluchte und auch Alban konnte sich gar nicht mehr beruhigen.
„Das gibt es doch nicht!“, rief er und riss Maria damit aus dem Schlaf.
„Nicht schon wieder“, murmelte sie schlaftrunken, „bitte nicht schon wieder ein bescheuertes idyllisches Örtchen!“
„He, Sie da!“, rief Alban. „Was machen Sie denn da? Sie holen sich ja den Tod! Kommen Sie sofort her und steigen Sie zu uns in den Schlitten. Wir nehmen Sie mit!“
Der Wanderer machte sich nicht mal die Mühe, zu dem Schlitten hinzuschauen. Er ging in gleichmäßigem Tempo weiter, so leise, dass sich Thuna ernsthaft fragte, ob es sich nicht um einen Geist handelte. Sie nahm auch keine Gedanken wahr. Normalerweise merkte sie, ob in ihrer Nähe etwas gedacht wurde. Sie hatte es sich zur Gewohnheit
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