Mondpapier und Silberschwert (Die Sumpfloch-Saga) (German Edition)
davon in Ihren Tee zu geben, damit Sie ganz bestimmt auch keine Kopfschmerzen bekommen!“
Estephaga Glazard schüttelte empört den Kopf.
„Aber es sind ja nur Tropfen gegen Kopfschmerzen“, sagte Lisandra betont harmlos. „Es sind nicht blöde Wahrheits- oder Ich-quatsche-alles-aus-Tropfen, nicht wahr?“
Estephaga stand hektisch auf und verschwand im Nebenzimmer. Lisandra grinste zufrieden.
„Frau Glazard?“, rief sie. „Kann ich bitte auch etwas von dem Gegengift haben?“
Auf den ersten Blick kam Lisandra ihre sogenannte Ausbildung bei Yu Kon vollkommen sinnlos vor. Doch im Laufe der Wochen bemerkte sie eine Veränderung an sich. Es war vielleicht banal, aber Situationen wie diese mit Estephaga Glazard auf der Krankenstation machten es ihr bewusst:
Sie hatte so eine Alles-oder-nichts-Einstellung bekommen, die sie stark und selbstbewusst machte. Sie hielt sich nicht mehr mit Kleinigkeiten oder Nebensächlichkeiten auf. An jedem Tag ging es für sie darum, durchzuhalten und sich so wacker zu schlagen wie möglich. Für Eitelkeiten, Trübsinn oder alltägliche Sorgen hatte sie einfach keine Zeit und keine Energie mehr übrig. Sie entwickelte einen Instinkt dafür, wie man die unsichtbaren, doch maßgeblichen Faktoren einer Situation erfasst und blitzschnell darauf reagiert. Kein Umweg über Gedanken und Abwägungen, sondern sie erfasste das Naheliegende und tat es sofort. So hatte sie den flüchtigen Augenblick genutzt, in dem Estephaga Verbandszeug aus einer Schublade geholt hatte, um die Tropfen, die ihr verdächtig vorkamen, in den Tee der Lehrerin zu kippen. Sie hatte auch nicht gezögert, diese Tat für ihre Zwecke zu nutzen und Estephaga über Torcks Gefängnis auszufragen.
Während den Abendmahlzeiten beobachtete Lisandra das Treiben im Hungersaal mit anderen Augen als früher. Sie nahm wahr, was in ihrem Rücken passierte, sie fühlte die vorherrschende Stimmung, sie hörte, wer am Lehrertisch sprach und wer schwieg (Grohann und Viego Vandalez schwiegen am meisten, v or allem, da sie sich gegenüber saßen), sie erkannte Muster im Kommen und Gehen der Schüler. Als es einmal eine Rangelei ga b an Tisch Acht, sah sie diese voraus . Nicht weil die Schüler stritten, sondern weil es am Tisch gefährlich still gewesen war und in den wenigen Worten, die gesprochen worden waren, eine gefährliche Schärfe mitgeschwungen hatte. Als dann schließlich Schüsseln flogen und sich zwei Jungen gegenseitig zu Boden warfen, war Lisandra überhaupt nicht überrascht.
Das waren die kleinen Veränderungen, die Yu Kons Unterricht mit sich brachte. Eine größere Veränderung war, dass Lisandra, Hanns und Haul zusammenhielten wie Pech und Schwefel. Das gemeinsame Leiden unter Yu Kon hatte sie zusammengeschweißt und so ließ Lisandra nichts mehr auf Hanns kommen. Da konnte Berry behaupten, dass Gespenster in Fortinbrack wie Sklaven gehalten wurden („Haul sagt, das stimmt nicht, und der muss es ja wissen!“), oder Thuna konnte berichten, dass Tiermenschen in Fortinbrack nicht geduldet wurden, weil sie dort als A bnormitäten der Natur galten, Lisandra ließ die Kritik nicht gelten.
„Vielleicht ist das in Fortinbrack so“, sagte sie, „doch das ist nicht die Schuld von Hanns. Schließlich ist seine ehemalige Kinderfrau eine Fischfrau, die er persönlich ins Leben zurückgeholt hat und bei sich im Schloss leben lässt!“
„Aber sie wollte vielleicht gar nicht ins Leben zurückgeholt werden!“, widersprach Scarlett ungewohnt heftig. „Womöglich ist sie sehr unglücklich und leidet, aber ihm ist es egal, denn er will unsere Kinderfrau bei sich haben!“
„Du weißt doch gar nicht, ob sie leidet!“
„Er reagiert immer ausweichend, wenn ich ihn danach frage!“
„Dann soll er sie mal hierher einladen, dann kannst du sie selbst fragen.“
„Habe ich ihm auch vorgeschlagen. Er will es nicht.“
Darauf wusste Lisandra nichts zu sagen, doch sie beschloss, Hanns noch einmal darauf anzusprechen.
Die Kontakte zwischen Scarlett und Hanns waren sehr beschränkt. Alle hatten erwartet, dass sich Hanns an Scarlett heranmachen würde, schließlich hatte er sie einmal gebeten, ihn nach Fortinbrack zu begleiten. Doch nichts dergleichen geschah. Lisandra vermutete, dass Hanns gegenwärtig die Energie fehlte, einem Mädchen den Hof zu machen. Berry nahm an, dass Hanns heimliche Pläne verfolgte, von denen Scarlett nichts wissen sollte, weswegen er sie mied. Thuna hatte die Theorie, dass Hanns auf Zeit
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