Mondschwingen (German Edition)
unter der Decke lag und die Buchstaben verzehrte. Mortis
war ein Geschichtenerzähler, ich kannte ihn natürlich, weil er auf vielen
Festen erzählte.“
Bartock räusperte sich
erneut, wie eine zerrupfte Krähe wackelte er mit den Armen.
„Du kamst auf die Welt
und wir waren sehr glücklich. Nur die Erinnerung, sie nagte oft an mir. Niemals
hatte ich Mortis von Skopenvang erzählt und meinem Vater und den grauen Raben,
die überall nach mir suchten. Sie waren überall, sie trieben sich sogar
manchmal auf der Frostburg herum und suchten nach mir. Mein Vater litt an einer
schweren Krankheit, er nahm an, er müsse bald sterben. Mortis fragte nie nach
meiner Vergangenheit, denn er wusste, dass ich davon nicht sprechen wollte.
Irgendwann, als ich in den Wald ging, um Pilze zu sammeln, kam mir eine Meute
grauer Raben entgegen. Ich versuchte ihnen zu entwischen, rannte so schnell ich
konnte.“ Liv strich über das Fensterglas und legte die Stirn daran. „Natürlich
waren die Raben auf ihren Pferden schneller. Ich hätte nicht rennen sollen, das
denke ich heute noch immer. Sie nahmen mein Kleid und verbrannten es mit
Stapeln von Papier. Ich hörte von niemandem mehr von euch. Ich hätte dich so
gern noch einmal gesehen, Linus, du hast langsam zu laufen begonnen.“ Sie
lächelte, als sähe sie Bilder hinter dem Fenster. „Die grauen Raben erzählten
den Waschweibern und geschwätzigen Alten von Jägern, die eine junge Frau
verbrannt hätten, nachdem sie ihr weniges Geld gestohlen hatten. Geschichten
wie diese werden von der Frostburg aufgesaugt, als gäbe es dort nicht schon
genug Elend.“
Linus wollte
unbeeindruckt aussehen oder böse, am besten beides, aber wenn er ehrlich war,
glaubte er ihr jedes Wort. Er wollte sich dagegen sträuben – der Hass hatte
sich so gut angefühlt – ,doch es gelang ihm nicht, so
sehr er sich auch bemühte.
„Ich kehrte nach
Skopenvang zurück, mein Vater hatte sich bereits wieder erholt. Er ließ mich
nur noch selten aus den Augen, er ließ mich in mein Zimmer einsperren, zusammen
mit meiner hakennasigen Amme. Zwölf Jahre später starb mein Vater, er hatte im
Schlaf das Zeitliche gesegnet.“ Sie drehte sich um und sah zu Linus herüber. „Seit
einem Jahr bin ich nun Königin der Menschen. Es kommt mir so viel länger vor.“
Geh nach Skopenvang,
hatte Mortis zu dem Fremden gesagt, bevor er gestorben war. Skopenvang. War
hier nicht die Antwort aller Fragen? Was hatte Linus erwartet zu finden? Einen
Haufen Gold, einen verwunschenen Großvater, ein eigenes Haus in den Straßen der
Stadt? Seltsamerweise hatte er nie darüber nachgedacht.
„Was hat er von mir
erzählt, dein Vater?“ Livs Stimme zitterte, mit klackenden Schritten kam sie
näher auf Linus zu.
Linus wollte nicht
reden, nicht jetzt.
„Bitte.“ Es hörte sich
wie ein Flehen an, so wie sie es sagte.
„Sie sei hübsch, hat er
gesagt. Sie hätte Bücher geliebt und hatte eine schönere Stimme als er, obwohl
er ein Geschichtenerzähler war. Dass er nicht Eure Vergangenheit kenne …“ Linus
biss sich auf die Lippe. Eure
Vergangenheit … es war ihm einfach so herausgerutscht.
„Viel hat er nicht
erzählt, ich weiß kaum etwas über sie.“
Liv stand nah bei ihm.
„Bitte sag mir, wie er gestorben ist.“ Sie presste es sehr leise hervor, ihre
Stimme wurde beinahe von den polternden Holzscheiten übertönt.
Diese fremde Frau hat
kein Recht davon zu erfahren, bellte die Stimme in ihm. Sie ist eine Lügnerin,
eine schlechte noch dazu. Sie ist eine Feindin, das Oberhaupt der Menschen. Deine Mörderin.
Und doch erzählte er es
ihr. Er wusste selbst kaum warum, er wusste nicht, was er fühlte und was er
fühlen sollte – Angst, Freude, Kummer. All das lag näher beisammen, als ihm
lieb war. Seine Gefühle vermischten sich wie bunte Farben zu tristem Grau.
Das Bernsteinfest, davon
sprach er als erstes. Er sah wieder die Feuerspucker, die Narren in den
schillernden Klamotten, die Boote auf dem See. Alles andere schilderte er so
schnell, wie es auch geschehen war. Mortis am Baum, seine Hand, die in den
Sumpf fiel. Tränen brannten ihm in den Augen, aber er
ließ sie nicht heraus. Er wollte nicht vor den Augen der Königin weinen wie ein
Kind, nicht ausgerechnet vor ihr.
„Wir wären noch in
derselben Nacht gemeinsam geflohen, wenn die Jäger nicht gekommen wären. Er
wollte nur noch ein letztes Mal zum Bernsteinfest, weil er ein Geheimnis
aufdecken wollte. Ich hab ihn nicht verstanden, doch ich bin mit ihm
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