Mondsplitter
genossen ihre vielleicht größte Stunde. Mobile Nachrichtenteams waren überall, schwebten vom Himmel herab, machten Aufnahmen von den Entsetzten und Verzweifelten und führten Interviews mit ihnen.
»Wohin sind Sie unterwegs, Mrs. Mattinik?«
»Irgendwohin …«
Menschen, die in Denver, Kansas City oder Indianapolis wohnten, erlebten eine andere Form der Agonie. Beinahe jeder hatte Kinder, Freunde oder Verwandte, die im Bereich der Flutwellen lebten. In allen betroffenen Gebieten waren jedoch die Telefonleitungen unterbrochen.
In anderen Regionen der Welt herrschten unterschiedliche Zustände. Ostafrika, der Nahe Osten und Asien hatten bislang weniger zu leiden, weil sie dem Ereignis weniger direkt ausgesetzt waren. Trümmerstücke regneten jedoch weiter herab, und die Erdrotation brachte diese Gebiete nun in die Schußlinie. Europa wurde schwer erwischt. Man ging von Tausenden Toten zwischen Rom und dem Rigaer Meerbusen aus. Ein Meteorregen hatte Kiew in der Ukraine verwüstet wie Carlisle. Porto Alegre und Valparaiso waren überflutet.
Auch ein paar gute Nachrichten waren zu vermelden: Eine Flutwelle, die Richtung Vancouver gemeldet wurde, traf dort nicht ein. In Pearl Harbor evakuierte die Marine Tausende von Familienangehörigen auf Kriegsschiffen vor anrollenden Tsunamis. In Glasgow brachten die Verantwortlichen der Stadt mit Zügen, Bussen und guter Planung eine ähnliche Leistung zustande.
Verschiedene Nationen unterstützten einander bereits und scherten sich dabei wenig um Landesgrenzen. Russische Streitkräfte waren mit Lebensmitteln und medizinischer Hilfe in Kiew eingetroffen. Während die Polen Litauer aus Riga retteten, brachten die Deutschen Polen von der Pommerschen Küste in Sicherheit. Italienische Hilfsdienste tauchten im Osten Frankreichs auf. Kanadier wurden auf dem Weg nach New York gemeldet.
In dieser Nacht gelangten manche Leute zu dem Schluß, daß die menschliche Rasse nie wieder sein würde wie vorher, egal was sonst noch alles passierte.
Skyport Orbitallabor, 3 Uhr 18
Skyport war ein geostationärer Satellit, der auf seiner Umlaufbahn ständig über den Galapagos-Inseln stand. Der Himmel über dem Ostpazifik wurde von einem feinen Netz aus Meteorschauern erhellt. Tory wußte, was auf dem Erdboden passierte. Entlang der Golfküste und in Mexiko hatten abrupte Veränderungen von Temperatur und Luftdruck gewaltige Stürme erzeugt. Winde in Orkanstärke und peitschender Regen fielen über Mobile, New Orleans, Tampico und Veracruz her. Das Fernsehen zeigte Bilder von zerschmetterten Leichen und kaputten Rollstühlen, durchnäßten Teddybären und umgestürzten Bussen. In Virginia Beach versuchte ein verzweifelter Vater vergeblich, seine Kinder vor einer Flutwelle zu retten, indem er sie an Bäumen festband; in Wilmington wollte ein Krankenhaus einfach abwarten, was die steigenden Fluten mit sich brachten, und verlor seine Patienten und praktisch seine ganze Belegschaft. Vor der Küste bei Atlantic City traf ein Hubschrauber der Küstenwache auf Scherwinde und stürzte in die aufgewühlte See. Allerorten kam es zu Heldentum und Tragödien.
Tory sah mit Augen zu, die ganz verschwollen waren von unterdrückten Tränen. Ihre Familie lebte in der Umgebung von St. Louis, so daß sie zumindest vor der allgemeinen Zerstörung sicher war. Aber die POTIMs schlugen weiterhin auf der Erde ein, und Tory sorgte für soviel Vorwarnzeit, wie sie nur konnte. Gewöhnlich waren es dreißig bis vierzig Minuten. Das war nicht viel, aber noch verdammt viel besser als null. Und sie spielte eine wesentliche Rolle dabei, sie, die Frau, die man hatte zurückschicken wollen, zu einem Zeitpunkt, an dem man das Personal hier besser aufgestockt hätte.
Sie verfolgte, wie POTIM-27 in die Atmosphäre zischte und irgendwo vor Brasilien verschwand. Die Städte Nord- und Südamerikas funkelten normalerweise von Lichtern, sogar zu dieser Tageszeit. In der heutigen Nacht waren jedoch ansehnliche Teile beider Kontinente dunkel geworden. Sogar der Lichterfluß, der sich von Boston nach Miami zog, war bestenfalls noch Flickwerk.
Hier, auf ihrem Posten sechsunddreißigtausend Kilometer über dem Pazifik, spürte Tory den Rhythmus der Einschläge, das Muster aus Licht und Intensität und Zeitpunkten. Ungeachtet dessen, was auf der Erde geschah, war diese kosmische Symphonie das Schönste, was sie je erlebt hatte.
Weißes Haus, Oval Office, 3 Uhr 20
Henry starrte auf die Papiere, die über seinen
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