Mondsplitter
draußen aussieht?«
»Sie möchten, daß ich zu den Leuten spreche?«
»Ja.«
»Aber ich weiß nicht, wie gut ich sie beruhigen kann. Wir glauben, daß wir Erfolg haben werden; die Experten geben sich zuversichtlich. So etwas erzeugt bei den Menschen jedoch nicht unbedingt starke Gefühle.«
Jemand klopfte an. Charlie öffnete die Tür und erblickte Evelyn. Sie war mit Kaffee und Eiern beladen. Mit den Lippen formulierte sie: Frühstück?
»Dann lügen Sie«, sagte Al.
»Haben die Leute nicht genug davon?«
»Gottverdammt, Charlie, das Kernland der Nation ist in Panik! Alle rennen in Deckung.«
Er nickte. »Ich verfolge die Meldungen.«
»Dann wissen Sie auch, daß Sie etwas tun müssen. Sir.« Evelyn deckte einen kleinen Tisch für ihn und befestigte dort Kaffee- und Essensbehälter. »Wir haben die Zeit schon mit den Sendern vereinbart. Um zehn Uhr heute morgen.«
»Zehn Uhr? Haben Sie den Verstand verloren, Al? Es ist jetzt schon, was, halb neun.«
»Je früher, desto besser, Charlie. Wir müssen die Leute beruhigen.«
Er spürte, wie sich sein Magen verspannte. »Ich melde mich wieder bei Ihnen«, sagte er.
Er trennte die Verbindung. Evelyn blieb für mehrere Sekunden schweigsam, aber er wußte, daß sie ihn betrachtete.
Er zuckte die Achseln. »Ich dachte, Sie wären draußen und würdest mit Lee arbeiten.«
»Wir sind gerade unterwegs zur nächsten Stelle. Wir machen Pause.« Dann wechselte ihr Tonfall. »Was werden Sie tun?«
Sie war eine reizende Frau. Er hätte sich gern mit ihr auf eine einsame Insel zurückgezogen. All das hinter sich gelassen. »Was kann ich denn tun? Ich halte meine Rede.«
»Ich meinte: Was werden Sie sagen?«
Das war eine gute Frage. »Ich sage den Leuten, daß die Lage unter Kontrolle ist. Ich fordere sie auf, die Ruhe zu bewahren und zu Hause zu bleiben, und erinnere sie daran, daß es auf der Straße gefährlicher ist als unter dem eigenen Dach.«
Sie runzelte die Stirn, und der Blick ihrer dunklen Augen wurde hart. »Ist das nicht das gleiche, was Kolladner ihnen gesagt hat?«
»Ach Scheiße, Evelyn! Was möchten Sie von mir? Was soll ich ihnen denn sagen?«
»Die Wahrheit?« schlug sie vor.
»Was ist die Wahrheit? Daß ich hier oben bin und aus dem Fenster auf diesen gottverdammten fliegenden Everest blicke, und daß ich es glauben möchte, wenn Feinberg mir sagt, daß ein paar Raumfähren ihn wegschieben können, daß ich es mir aber nicht wirklich vorstellen kann? Daß ich glaube, das Ding wird ins Zentrum von Kansas stürzen und dem Land den Rücken brechen?«
»Oh«, sagte sie.
»Nein. In diesem Moment ist es mein Job, die Lage unter Kontrolle zu halten. Und Carpenter und Feinberg die Chance zu geben, daß sie ihre Arbeit vollenden.«
»Falls Sie lügen«, sagte Evelyn, »merken die Zuschauer es. Ich halte Sie nicht für einen guten Lügner, Charlie.« Und dann bedachte sie ihn ohne Vorwarnung mit einem gewissen Blick, und er verstand die Einladung. Er zögerte, entschied dann, warum zum Teufel eigentlich nicht, und umarmte sie. Ihre Lippen berührten seine Wange und drückten sich dann auf seinen Mund. Evelyn war warm und nachgiebig, und ihre Brüste und Hüften verschmolzen mit ihm. »Bleiben Sie bei der Wahrheit«, sagte sie. »Das entspricht Ihrem Wesen.« Ihre Wangen waren naß.
Er tastete nach ihrem Nacken und hielt sie fest. Sie wiegten sich sachte.
»Bleiben Sie bei der Wahrheit«, wiederholte sie. »Aber äußern Sie nicht Ihre Meinung.«
Route 411, westlich des Cherokee Waldnationalparks, Tennessee, 8 Uhr 42
Sie hatten ihm den Revolver abgenommen, ihm die Hände mit Handschellen auf den Rücken gefesselt und ihn hinten in den weißen Ford-Lieferwagen des Obersten gesteckt. Es gab dort keine Fenster, außer denen der Hecktüren. Er saß auf dem Boden, neben dem Raketenwerfer und einem Arsenal von AN/415-Cobra-Wärmesuchern.
Vorne redeten Tad und Steve nicht viel. Das Radio kündete in endlosen Variationen von der Katastrophe; Menschen betrauerten Freunde und Verwandte, andere sagten das Ende der Welt voraus. Eine Flutwelle hatte Anchorage getroffen; ein Felsbrocken war in China eingeschlagen und hatte ein Erdbeben ausgelöst, das mehrere Städte verschlang. Jack kannte Menschen in Los Angeles und Seattle, auf Cape Cod und in Miami oder hatte sie gekannt. Sein Onkel Frank lebte in Anchorage; er hatte sich jedes Weihnachten an ihn erinnert, als er noch ein Kind war. Wer lebte noch und wer war tot? Und Jack hatte zu Hause zwei
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