Mondsplitter
indirekte Verbindungen unterhielt. Zweimal war er ihr schon zu Hilfe gekommen, als es darum ging, neue Betriebe in Schwung zu bringen. Das war sein Spezialgebiet, und er war sehr gut darin.
Darüber hinaus war er für sie eine Vaterfigur geworden, ein Berater sowohl in beruflichen wie persönlichen Fragen, der Mann, an den sie sich wandte, wenn sie Probleme hatte.
Er war in den Fünfzigern, ein Witwer mit drei Kindern, die alle längst auf eigenen Füßen standen. Er hatte ein klein wenig Übergewicht und machte diesen ausgewaschenen Eindruck, typisch für Leute, die kürzlich fünfzig oder mehr Pfund abgespeckt hatten. Chandler hatte vorige Weihnachten einen schweren Herzanfall erlitten und war auf strenge Diät gesetzt worden.
Evelyn wollte damals diesem engsten ihrer Freunde unbedingt helfen und erkundigte sich, ob die geringe Schwerkraft des Mondes Chandler helfen würde, das beschädigte Herz zu entlasten. Man redete schon lange darüber, auf dem Mond ein Sanctum sanctorum für Herzpatienten einzurichten, und dies schien eine gute Gelegenheit, den Ball ins Rollen zu bringen. Der Nachteil bestand darin, daß sein Arzt nicht glaubte, Chandler würde je auf die Erde zurückkehren können.
Chandler war jedoch mehr als bereit. Also bekam Evelyn den Direktor ihrer Wahl und vollbrachte zugleich eine gute Tat für jemanden, in dessen Schuld sie stand. Ob er sich besser fühlte? »Zwanzig Jahre jünger«, sagte er. »Ich war schon so weit, daß ich ständig einen Klumpen Blei in der Brust fühlte.« Er strahlte sie an. »Das Gewicht ist weg.«
Sie debattierten gerade über die Vorzüge der Personen, die auf der kurzen Liste von Bewerbern für die Stelle seines Assistenten standen, als das Telefon klingelte. »Es ist Orly Carpenter, Mr. Chandler«, sagte die Sekretärin. »Er möchte mit Dr. Hampton sprechen.«
Carpenter war der Betriebsleiter der NASA in Houston. Chandler reichte das Telefon weiter.
»Guten Morgen, Orly«, sagte Evelyn. »Wie läuft es bei euch?«
»Nicht gut.« Carpenter war ein ehemaliger Astronaut, und seine Stimme wurde flacher, wenn er Probleme zu melden hatte. »Wir stecken in Schwierigkeiten«, sagte er.
Sie saß auf der Schreibtischkante und sah sich die Bostoner Straßenszene an, die auf einer Wand des Büros lief. Menschen mit Schirmen liefen durch einen plötzlichen Regensturm. »Was ist los?« fragte sie beiläufig. Orly war okay, aber sie wußte aus langer Erfahrung, daß Staatsbedienstete häufig auf Probleme überreagierten.
»Du hast doch von dem Kometen gehört«, sagte er.
»Natürlich.«
»Wir denken, daß er einschlagen wird. Er ist groß, und er ist schnell. Mein Gott, Evelyn, wir haben nur dreieinhalb Tage!«
»Entspanne dich, Orly«, sagte sie und unterdrückte die eigene plötzliche Beunruhigung. »Ich lege dich auf den Lautsprecher. Jack Chandler ist hier.«
Chandler teilte ihre Einstellung zu regierungsamtlicher Besorgnis. Er sagte hallo.
»Wo wird das Ding einschlagen?« fragte Evelyn. »Auf der Erde? Einer der Stationen? Wo?«
»Dem Mond.« Er legte eine kurze Pause ein. »Auf dem Mond. Er wird euch mächtig um die Ohren fliegen.«
»Das meinst du doch nicht im Ernst.«
»Höre ich mich vielleicht so an, als ob ich es nicht ernst meinte?«
»Wann?«
»Samstagabend. Spät abends, wie es aussieht.«
»Wie sicher bist du dir?«
»Etwa zu achtundneunzig Prozent.«
Evelyn bemühte sich, ihre Gedanken zu ordnen. »Du redest, als ob wir uns Sorgen machen müßten. Wird er in der Nähe der Mondbasis einschlagen?«
»Sieht nach dem Mare Muscoviensis aus.«
»Das Observatorium«, flüsterte Jack. »Er wird das Observatorium zerstören?«
»Allermindestens. Das Ding wird starke Mondbeben auslösen. Vielleicht Schlimmeres.«
»Was könnte es Schlimmeres geben?« fragte Evelyn.
»Es wäre eindeutig möglich, daß er den Mond zertrümmert.«
Den Mond zertrümmert. Der Satz blieb in der reglosen Luft hängen.
Evelyn starrte auf den strömenden Regen, der auf das Prudential Building herunterprasselte, und versuchte zu begreifen, was Orly wirklich sagte.
»Was meinst du mit zertrümmern?« wollte sie wissen.
»Wie soll ich es sonst ausdrücken? Stell dir einen Sack mit losen Steinen vor.«
Evelyn zog einen Notizblock heran und fing an zu kritzeln. Sie verfügten über drei Mondbusse, die zusammen vierzig Personen nach L1 bringen konnten. Mit Rückfahrt dauerte das über fünf Stunden. Zwischen jetzt und Samstagabend konnten sie siebzehn solcher Fahrten
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