Mondsplitter
reichte sie ihm über den Schreibtisch.
»Kann ich irgendwie helfen?«
»Besorgen Sie uns mehr Busse.« Sie lächelte.
»Ich denke nicht, daß wir welche verfügbar haben.« Und dann ernst: »Sie wollen damit doch nicht andeuten, daß sie nicht alle Leute wegbringen können, oder?«
»Es wird ein bißchen knapp«, sagte Chandler.
Evelyn bekräftigte das mit einem Nicken. »Wir haben nicht genug Busse, um alle hinüber zur L1 zu bringen.«
Charlies Bauch spannte sich an. »Also«, sagte er. »Was tun wir? Gibt es irgendwo weitere Busse?«
»Sind im Bau. Und einer ist so stark reparaturbedürftig, daß er nutzlos ist. Nein. Jack hat vorgeschlagen, die einstufigen Raumfähren heranzuziehen.«
»Die Raumfähren?« fragte Charlie. »Soviel ich gehört habe, können sie nur zwischen Skyport und der Erde verkehren.«
»Stimmt«, sagte Chandler, »sie sind nicht für Fernflüge durch den Weltraum gebaut. Zu viel Masse, ineffiziente Treibstoffverwertung. Aber in der Not frißt der Teufel Fliegen.«
»Können die hier draußen überhaupt landen?«
Evelyn schüttelte den Kopf. »Aber sie können auf eine Umlaufbahn um den Mond gehen, und dann schicken wir die Busse zu ihnen hinauf. Sie wären näher als L1 und der Flug damit kürzer. Nicht viel, aber genug, um alle von hier evakuieren zu können. Solange wir auf die Fähren warten, bringen wir die Leute weiterhin zur L1 hinüber.«
»Gott sei Dank«, sagte Charlie. Er war erleichtert, nicht nur, weil niemand zurückblieb, sondern auch, weil er die politischen Auswirkungen vorhersah, falls Leute starben, während er entkam.
BBC WORLDNET, 10 Uhr 01
Ein Sprecher von Mondbasis International in Boston erklärte heute, daß eine umfassende Evakuierung der Mondbasis eingeleitet wurde. Er betonte dabei, daß keinerlei Gefahr für Personal oder Besucher der Station besteht. Grund für die Evakuierung ist die drohende Kollision mit dem Kometen Tomiko am frühen Sonntagmorgen, westeuropäische Zeit.
Damit im Zusammenhang steht die Spekulation von Astronomen am Royal Observatory, daß das Objekt kein Komet im traditionellen Wortsinne ist. »Kometen gehören der Familie der Sonne an«, sagte Wilfred Hodge, Mitarbeiter der Sternwarte und bekannter Wissenschaftsautor. »Tomiko dagegen ist ein interstellares Objekt, wahrscheinlich ein kometenähnlicher Körper, der aus einem anderen Sonnensystem herausgeschleudert wurde und seit Millionen, vielleicht sogar Milliarden Jahren unterwegs ist.«
Mondbasis, Grissom Country, 10 Uhr 17
Evelyn Hampton stellte fest, daß sie mitten in der schwersten Krise ihres Berufslebens wenig zu tun hatte. Jack Chandler organisierte die Evakuierung, und das letzte, was die Mondbasis brauchte, war ein zweiter Boß. Also begnügte sie sich mit der Rolle eines auf Besuch weilenden Würdenträgers, der gerettet werden mußte.
Dieser Status verschaffte ihr eine ähnliche Perspektive wie Charlie. Daher schien es fast in der natürlichen Ordnung der Dinge zu liegen, daß sie beide ein Treffen im separaten Speisezimmer des Huntress vereinbarten, eines Bistros in einem Baumbestand der Main Plaza, wo sie unter den Augen der Agenten mitfühlende und ermutigende Worte wechselten. »Wir beide tragen keine Schuld«, sagte Evelyn, »aber man wird sie uns trotzdem geben. Das geht aus Hamptons Gesetz hervor.«
»Was ist Hamptons Gesetz?« fragte Charlie. Der Vizepräsident wirkte benommen, als hätte er die Ereignisse immer noch nicht ganz verdaut.
»Unabhängig von den Umständen hat immer jemand schuld, wenn etwas schiefgeht.«
Evelyn war gegen Politiker generell voreingenommen. Es gab anscheinend zwei Kategorien: Die vollständig Skrupellosen, die die große Mehrheit bildeten, und die anderen, die strikt ihren Prinzipien folgten, egal wer darunter zu leiden hatte. Es war ihr von Anfang an schwergefallen, Charlie in eine dieser Kategorien einzuordnen. Man konnte sich fast vorstellen, daß er irgendwie in den falschen Beruf hineinspaziert war. Er verkörperte eine saloppe Philosophie des Wir-sitzen-alle-im-selben-Boot, die Evelyn bei keinem anderen ihr bekannten nach Macht strebenden Menschen für glaubhaft gehalten hätte.
Und selbst bei Charlie war sie ein wenig skeptisch. Zum einen saßen sie gar nicht alle im selben Boot. Charlie würde vielleicht unter politischen Nachwirkungen leiden, aber Evelyn drohte alles zu verlieren – das Unternehmen, ihren Aktienbesitz, ihre Karriere. Ihren Ruf.
»Was werden Sie jetzt tun?« fragte Charlie.
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