Mondtaenzerin
kam. Früher hatte sie mich immer geweckt, indem sie an die Tür klopfte. Eintönig und mechanisch rückten die vergoldeten Uhrzeiger über das Zifferblatt. Das ewige Ticktack, Ticktack hörte ich sonst nie. Jetzt erfüllte das winzige Geräusch meine ganze Wahrnehmung. Noch eine Nacht, und ich würde in der Klasse an meinem Platz sitzen, und Peter auch, aber Giovanni nicht. Und auch Viviane nicht, aber ihre Geschichte stand auf einem anderen Blatt. Ticktack, Ticktack! Mit wilder Geste drehte ich die Uhr um, das Zifferblatt gegen die Wand. Ja, es klang etwas leiser jetzt. Und dann, als es klingelte, tat mein Herz einen Sprung. Eine einzige, schnelle Bewegung brachte mich auf die Füße. Ich hielt den Atem an, legte mein Ohr an die Tür. Und als ich Kommissar Ellisons Stimme hörte, durchfuhr es mich siedend heiß. Hastig steckte ich mein Haar zu einem Pferdeschwanz fest, stopfte mein T-Shirt in die Jeans und wankte mit weichen Knien die Treppe hinunter. Diesmal
war der Kommissar allein gekommen. Die Eltern hatten ihn schon ins Wohnzimmer gebeten, und Mutter kam mit einem Tablett zurück, Kaffee, Zucker, das übliche Glas Wasser. Der Kommissar dankte. Er war in Zivil, trug den sonntäglichen dunklen Anzug und sah gut darin aus. Er wollte nur rasch für einen Augenblick bei uns hereinschauen. Vater wandte mir, als er mich hereinhuschen sah, die Augen zu und sagte, Kommissar Ellison hätte Nachrichten für uns – in einem Ton, der zu erkennen gab, dass er wenig erfreut war. Ich erwiderte seinen Blick mit einem flauen Gefühl im Magen, grüßte wortkarg und setzte mich steif auf die Sofakante. Inzwischen hielt der Kommissar seine Tasse in der Hand, seine Miene war ausdruckslos und vornehm, mit einem leichten grauen Ton unter der Haut. Er nickte mir wohlwollend zu und sprach mit betonter Höflichkeit, wobei sich die Falte zwischen seinen Brauen vertiefte.
»Wie ich deinen Eltern soeben mitteilte, hat Don Antonino gestern Besuch erhalten. Sehr hohen Besuch. Und nach einem längeren, trostbringenden Gespräch fühlte er sich eindeutig besser. Jedenfalls hatte er wieder einen klaren Kopf und konnte einige Aussagen revidieren.«
Ein Schlag geradezu. Mir stockte der Atem. Vater sah vielsagend zu Mutter hinüber. Diese saß da, ganz Ablehnung, ich sah es an der übertriebenen Steifheit ihrer Schultern und einer ebenso übertriebenen Angespanntheit ihres Kinns. Es war still im Zimmer. Vaters Augen kehrten wieder zu Ellison zurück.
»So«, sagte er. Das war alles, was er sagte. Der Kommissar erwiderte seinen Blick, zuckte ein klein wenig die Achseln.
»Don Antonino stand zwei Tage lang unter Medikamenten. Der ganze Schock, das Fieber. Offenbar hatte er eine … geistige Umnachtung erlitten. In diesem Zustand bildet man sich viel Irrelevantes ein, wie?«
Er schien auf eine Bestätigung von meinem Vater zu warten, der frostig nickte.
»Nun ja, solche Gefühle kann man tatsächlich dabei haben.«
Der Kommissar räusperte sich, wobei er wie ein Mann wirkte, der seine Gedanken sucht und sich noch unschlüssig ist, wie er sie ausdrücken soll.
»Verstehen Sie, am Anfang schien die Schuld des Jungen ja klar erwiesen. Erst, als Don Antonino sich an Einzelheiten erinnerte, kamen Zweifel auf.«
Ich starrte ihn an, seine Worte hallten in meinem Bewusstsein wider, während Ellison einen Schluck Kaffee nahm, in Gedanken vorsorglich bemüht, die Dinge zu sagen, wie sie gesagt werden mussten.
»Und jetzt sieht es wohl so aus, dass die Schundhefte auf anderem Weg in das Pfarrhaus gekommen sind. Einige Tage zuvor hatten Handwerker Fliesen gelegt. Nette Leute, gewiss, können aber primitiv sein. Aber Don Antonino, der die Hefte fand, hat aus naheliegenden Gründen den Neffen verdächtigt. Ein Vierzehnjähriger, nicht wahr? Sehr anfällig für solche Dinge! Falls notwendig, wollte Don Antonino ihn tadeln. Als er den Neffen zu später Stunde aufsuchte, schlief dieser bereits. Don Antonino entsinnt sich jetzt gut: Er hat im Dunkeln einen Stuhl übersehen und ist mit dem Kopf gegen die Wand gestürzt. Und Giovanni – das muss man ihm sehr verübeln – hat dem Besinnungslosen nicht geholfen, nein, er ist davongelaufen. Die Sache setzt Don Antonino arg zu, der arme Mensch fühlt sich schuldig. Er versteht auch, dass der Junge Angst hatte. Er dachte offenbar, der Onkel sei tot. Von Geistesgegenwart keine Spur. Aber so ist die Jugend heutzutage. Wie auch immer, das Strafverfahren gegen Giovanni wurde eingestellt.«
Ich horchte den Worten
Weitere Kostenlose Bücher