Mondtaenzerin
musste, ging sofort ans Werk. Sammelte sich zu viel Altpapier, wurde es entsorgt, war das Treppenhaus schmutzig, griff einer zum Staubsauger. Grundsätzlich galt, Badezimmer und Küche nach Gebrauch sofort zu reinigen, damit der nächste Besucher keine Haare im Waschbecken oder ein benutztes Klo vorfand. Wenn jemand sich nicht an diese Abmachung hielt, griff Belinda ein, und meistens genügte ein freundlicher Hinweis, und Ordnung kehrte ein. Allerdings war Toleranz notwendig; bei so vielen Leuten im Haus durfte man nicht zu pingelig sein. Mir fehlte zunächst eine gesicherte Privatsphäre, ich merkte aber bald, dass die Pension der richtige Ort für mich war. Ich
hatte meine Familie verlassen. Ich hatte meine Insel verlassen. Und eine Zeit lang war ich mir nicht klar darüber, was ich mit meinem Leben nun anfangen wollte. Ich fühlte mich, als wäre ich durch eine Glastür gesprungen, innerlich ganz zerschnitten und zerschlagen. Dass ich Biologie in London studieren wollte, hatte ich mit aller Anstrengung und Berechnung zuwege gebracht. Allerlei Schritte waren dabei zu tun gewesen, ich hatte einen Teil meiner Freiheit selbst entwerfen müssen, aufgegeben, den anderen erlaubt, sich noch ein Stück weiter von mir zu entfernen. Eine Zeit lang gab es nichts von meiner Zukunft, das in meinem Inneren hätte Gestalt annehmen können, bis ich merkte, dass darin nichts Beunruhigendes lag. Vergleiche mit der Biologie drängten sich auf. Die Natur war immer da, bei uns, in uns. Wir waren Gesetzen unterworfen, die wir bei einem Tautropfen, einem Sandkorn oder auch am menschlichen Körper beobachten konnten, ja sogar an der Art, wie unsere Gesellschaft funktionierte. Ich war ein besonnener Mensch, keine hysterische Zicke. Blickte ich im Mikroskop auf das langsame und zielstrebige Wachsen eines Saatkornes, das seine Hülse sprengte, auf das gierige Emporsprießen der winzigen Triebe, nahm ich nicht mehr wahr, was rings um mich geschah. Es war – obwohl ich damals den Gedanken nicht in Worte kleiden konnte –, als ob ich zu den Quellen des Lebens zurückfand. Ich leistete mir die beruhigende Freude, einfach wegzutauchen, erlebte sie ganz allmählich, diese Erleichterung des Herzens, die Entspannung des Körpers, gepaart mit einer Art von wildem Vergnügen. »So ist es also und nicht anders!« Ich gab mich dieser Verzauberung hin, wenn ich mich auch nur zögernd vorantastete. Eine Zeit lang las ich gierig Edgar Allan Poe und fand mich in Übereinstimmung mit ihm. Auch mir jagte die Unendlichkeit der Schöpfung keinen Schrecken ein. Die pathologischen Schauer des Entsetzens, die mich in gewissen Abständen überfielen, kamen nicht aus dem Dunkel des Weltalls, sondern aus dem
Dunkel der menschlichen Seele. Ja, die Seele schien mir mit ihrer Unberechenbarkeit viel unheimlicher als die Nachttiefe des Universums.
Solche Fragen interessierten die Künstler nur wenig, die Politikstudenten überhaupt nicht. Sie verfielen sofort in Gesellschaftskritik: die Labour Party, das Establishment, das es zwangsläufig zu bekämpfen galt. Sie waren fest davon überzeugt, dass alles, was sie machten, zum Politikum wurde. Sie waren immer ganz dafür oder völlig dagegen, eine Zwischenstellung schien es für sie nicht zu geben. Es war nicht einmal ein Forum von Ideen, sondern ein sehr konventionelles Denken und Fühlen, von echter kreativer Unordnung weit entfernt. Dabei waren das alles nette, intelligente Menschen, die vorgekaute Ideen in alle vier Winde warfen. Sie verhielten sich wie Blinde, deren Gemütsruhe durch ihre Blindheit gesichert ist, während sie am Rande eines Abgrundes dahintappten. Ich aber hatte begonnen, diesen Abgrund zu sehen, und zwar schon als Kind. Aber ich wusste bereits, dass der Mensch nicht das Maß aller Dinge sein kann, dass er nur ein Atemzug im großen Leben unseres Planeten ist. Die Natur mochte Grausames und Schreckliches hervorbringen; es war ihr gutes Recht, dass sie es den Menschen heimzahlte. Unser ganzes Gedächtnis hing ja an der Erde, und Knochenreste lassen uns wissen, dass jede Weltepoche nur eine Zeile in einem Buch ist. Allerdings zeigt das Neue, dass unsere Existenz die Existenz der Erde verändern kann. Der Glaube an die menschliche Vernunft ist eine Illusion, wenn auch eine besonders hartnäckige. Ich beneidete und bedauerte gleichzeitig diese Intellektuellen, hätte gerne ihre Unbeschwertheit geteilt und brachte es nicht mehr fertig. Es war schon zu lange her, dass ich ihre beruhigenden Gewissheiten
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