Mondtaenzerin
dachte, es würde ihr guttun, das alles wiederzusehen. Aber Miranda interessierte sich für nichts.
›Hör auf, von Karotten und Salatköpfen zu reden!‹
›Früher war hier die Gartenschaukel befestigt. An den Zweigen des Apfelbaums. Da, man sieht noch die Stelle.‹
›Ja, und?‹, fragte sie kalt.
›Du hast doch hier geschaukelt. Ich habe die Fotos gesehen.‹
›Ich entsinne mich nicht.‹
›Du hast immer die harten, grünen Äpfel gegessen. Grandpa sagte, davon kriegst du Bauchweh.‹
Miranda sagte immer wieder, dass ich aufhören sollte. Ihr Gesicht drückte Panik aus. Sie wollte von diesen Dingen nichts wissen. Verstehst du, Alessa, sie trug in sich einen verzweifelten Kummer und das Gefühl des völligen Versagens. Wahrscheinlich erschien ihr der ›Taubenschlag‹ wie ein Symbol dieses Versagens. Mir war inzwischen klargeworden, dass Miranda diese Spannung nur in Zorn und Selbstzerstörung loswerden konnte. Ich nahm es ihr nicht einmal übel, dass sie Old Sarum hasste. Hier war es ja, wo alles begonnen hatte. Im ›Taubenschlag‹ lag das Schweigen einer Totenwache. Miranda irrte verloren durch die Räume, die alle muffig rochen, rauchte eine Zigarette nach der anderen, hustete und putzte sich die Nase. Sie hatte nach wie vor diese klaren grünen Augen, die mich anstarrten, wenn ich sie nicht ansah. Ertappte ich sie dabei, sah sie sofort weg. Schließlich wurde es mir unheimlich, und ich fragte: ›Warum schaust du mich immer so an?‹
Sie fuhr leicht zusammen. Sie dachte natürlich, dass ich es nicht bemerkt hätte.
›Weil du genau wie Lavinia aussiehst‹, sagte sie.
Das gab mir einen Schock.
›Das kann nicht sein, Lavinia war schön.‹ Ja, und weißt du, Alessa, was Miranda antwortete? ›Das stimmt allerdings, du bist hässlich, du warst schon immer ein hässliches Kind. Aber du bist trotzdem Lavinia.‹
Als sie das sagte, Alessa, ist mir fast schlecht geworden. Ich
wollte ihr ja nur helfen. Sie empfand das alles wie Hohn. Ich war wirklich sehr geduldig, aber allmählich wurde ich nervös. Ich sollte die Mutter meiner Mutter sein und war es nicht gerne. Sie war ein wenig verrückt, so viel war klar. Ich wusste nie, was ihr durch den Kopf ging und was als Nächstes kam. Sie stellte unverschämte Forderungen, ich musste ihre wirren Fragen beantworten, sie trösten. Sie kam mir so nahe, drängte sich in der peinlichsten und bedrückendsten Weise auf. Ihre Unterwäsche war eine Katastrophe, ich musste sogar ihre schmutzigen Slips waschen. Sie stellte sich nur unter die Dusche, wenn ich sie dazu zwang.«
Viviane leerte ihr Glas, machte leicht und graziös eine Geste, die ein zweites Glas verlangte. Der Kellner brachte es, und Viviane sprach weiter. Sie legte nicht viel Ausdruck in ihren leisen, gleichmäßigen Tonfall. Aber ihre Worte waren berührend und bezwingend und dabei absolut sachlich. Keine Spur von Schönfärberei. Wie kam sie bloß mit diesen Erinnerungen zurecht, die sie wie Verwesungsdünste umgaben?
Sie hatte Miranda vorgeschlagen, wenigstens ein paar Tage im »Taubenschlag« zu bleiben, damit sie sich eingewöhnen konnte. Der Sohn des alten Verwalters war ja noch da, er konnte mit seiner Frau das Haus wieder wohnlich machen. Miranda bekam eine Nervenkrise, schrie wie eine Irre, Viviane sollte sie in ein Hotel bringen. Sie tat ihr auch diesen Gefallen, fand ein kleines Hotel in Salisbury. Weil sie Miranda nicht allein lassen wollte, übernachtete sie im gleichen Zimmer. Die erste Nacht war schrecklich, sagte Viviane, Miranda musste sich ständig übergeben. Viviane hielt ihren Kopf, streichelte ihre nasse Stirn, zog die Klospülung und machte alles sauber. Und als Viviane endlich einschlief, kam Grandpa im Traum zu ihr und sagte: »Ich mache mir Sorgen. Aber wir können nichts mehr für sie tun.«
»Danach«, erzählte sie weiter, »schlief ich wie ein Stein. Die Sonne weckte mich, und als ich mich im Zimmer umsah, war
Miranda verschwunden. Ihre Reisetasche war noch da, aber ich fragte mich beunruhigt, was sie wohl trieb. Der Concierge hatte sie gesehen, wie sie aus dem Hotel ging, sie hatte nicht einmal gefrühstückt. Ich suchte sie in ganz Salisbury, überlegte bereits, ob ich die Polizei einschalten sollte, bis ich sie endlich in einem Pub fand. Sie war stockbetrunken und sah entsetzlich aus. Ich brachte sie ins Hotel zurück, zerrte ihr das verschwitzte Zeug vom Leib. Ich schob sie unter die Dusche, wusch ihr sogar die Ohren. Dann trocknete ich sie ab, wie ein Baby.
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