Mondtaenzerin
sie aus der Pension geschmissen wurde, kümmerte ich mich um sie, zahlte ihr sogar Businessclass, damit sie ihre zerstochenen Beine schonen konnte. Sie hatte viel zu lang im Süden gelebt. Das feuchte Klima bekam ihr nicht, ihr Immunsystem war geschwächt, sie fror und sah erbärmlich aus. Ich kaufte ihr warme Klamotten, machte einen Termin für sie bei einem guten Friseur ab. Danach sah sie wieder ganz manierlich aus. ›Wie fühlst du dich?‹, fragte ich sie immer wieder, aber sie saß einfach nur da, mit verschränkten Armen, verstockt. Als ich sie dann nach Old Sarum brachte, sah sie sich die Hügel an, mit ihren Schaf- und Schweineherden. Ich weiß nicht, was sie empfand, jedenfalls war da nichts, das ihr gefiel. Sie schimpfte nur drauflos.
›Was soll ich in diesem Kaff? Schweine hüten?‹
›Grandpa hat mit Koteletts viel Geld verdient‹, sagte ich, was sie noch mehr in Rage brachte.
›Hier bleibe ich auf keinen Fall! Ich hasse diesen Ort, das solltest du wissen!‹
›Früher hast du ihn nicht gehasst‹, sagte ich, worauf sie für eine Weile den Mund hielt. Der ›Taubenschlag‹ ist ein Gutshaus aus dem neunzehnten Jahrhundert, klein, aber elegant, und liegt neben einem Teich, wo nachts die Frösche quaken. Nach vorn blickt es über einen Park, mit einem schönen Rasen und alten Zedern. Wenn die Sonne schräg über die Hügel scheint, leuchtet die Säulenfassade durch das Grün, wie man es auf alten Stichen sieht. Hinter dem Haus befindet sich ein gepflasterter Hof mit Stallungen und ein ummauerter Obst- und Gemüsegarten.«
Ich hörte Viviane zu und war gegen meinen Willen gefesselt. Das Erzählte, in seiner Wirkung unfehlbar, entwuchs ihr wie eine Blume aus der Erde. Ihre Zungenfertigkeit war wirklich zu beneiden. Ihr Gedächtnis ließ sie keine Sekunde im Stich.
Inzwischen aß sie weiter, trank Bier und erzählte, dass früher der »Taubenschlag« voller Leben war. Dass Lavinia und Willbur kluge und berühmte Leute zu sich einluden. Es gab Wochenendgäste im Sommer, Jagdgäste im Herbst und Silvestergäste. Bei solchen Gelegenheiten trug Lavinia ihre Pariser Couture-Kleider und ihren wenigen, aber ausgesucht schönen Schmuck. Willbur hatte seine Pferde hier, man gewann den Eindruck, dass er viel Zeit in Old Sarum verbrachte, obwohl er es mit seinen politischen Pflichten peinlich genau nahm. Aber es stimmte schon, dass die offenen, mit Heidekraut und Blaubeeren bewachsenen Hänge ein ideales Reitgelände waren.
Gleichwohl war es Lavinia, die das Gut verwaltete, und ihre hellen Augen, die ein klein wenig schielten, erspähten jede Einzelheit in Haus, Garten und Stallungen. Nicht Willbur, sondern
Lavinia wurde gerufen, wenn es ein krankes Tier gab oder die Schafe ihre Lämmer zur Welt brachten. Sie rief jede einzelne ihrer schönen weißen Angoraziegen beim Namen, und es waren über fünfzig! Es machte ihr auch nichts aus, in Gummistiefeln durch den Matsch zu den Schweinen zu waten. Als ein Fohlen bei der Geburt quer lag, drehte es Lavinia mit eigenen Händen in die richtige Stellung, bevor sie es aus dem Bauch der Mutterstute zog. Der Geruch der Hände, die sie zur Welt gebracht hatten, musste im Unterbewusstsein der Stute haften, denn sie folgte Lavinia wie ein gehorsamer Hund. Man musste sie sogar daran hindern, hinter ihr das Haus zu betreten!
Woher wusste Viviane all diese Einzelheiten? Von ihrem Grandpa, nahm ich an. Sonst hätte sie es mir nie so genau erzählen können. Aber so vieles aufzubewahren, wie sie es tat, und sogar die Gefühle und Gedanken ihrer Mitmenschen nachzuempfinden, fand ich nahezu erschreckend. Aber vielleicht besaß sie die Gabe, genau zwischen dem zu unterscheiden, was in Vergessenheit geraten konnte und was bleiben sollte.
»Nach Lavinias Tod«, sagte Viviane, »dachten alle, dass Grandpa den ›Taubenschlag‹ verkaufen würde. Er behielt aber das Anwesen, was die Leute sehr verwunderte. Vielleicht waren es Erinnerungen an glückliche Zeiten, die ihn an diesen Ort ketteten. Mir hatte er gesagt, er wusste selbst nicht, warum es ihn immer wieder nach Old Sarum zog. Aber es war unverkennbar, dass das Haus verfiel. Nur der Garten wuchs, voller Kraft und Energie, die Zwiebel- und Rhabarberbeete wucherten, und ungepflegte Brombeerbüsche eroberten den Boden. Unter den Bäumen lag faulendes Fallobst. Als Miranda nach dreißig Jahren zum ersten Mal wieder nach Großbritannien kam und ich mit ihr nach Old Sarum fuhr, führte ich sie zunächst durch den Garten, ich
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