Mondtaenzerin
unglaublich!«, sagte ich als Entschuldigung.
»Das bildest du dir nur ein!«
Viviane ging gelassen zur Theke, kam mit einer zweiten Pastete zurück, die sie sich schmecken ließ. Ich sah ihr zu, trank mein Bier in kleinen Schlucken. Sie hatte noch immer ihre tadellosen Tischmanieren, hielt nie die Gabel in der Mitte des Griffs, wie ich es dann und wann gedankenlos tat. Orangen, auch wenn sie hart waren, zerteilte sie mit Messer und Gabel. Es sah mühelos und elegant aus, aber ich hätte das nie fertiggebracht. Endlich schob sie ihren leeren Teller zurück, beugte sich leicht über den Tisch. Eindringlich, fast verstohlen, sprach sie in meine Augen.
»Hätte Miranda nur gesagt: ›Vater, ich habe gelogen. Ich war jung und hatte große Angst, es tut mir ja so leid!‹ Hätte
sie es nur ein einziges Mal gesagt, und Grandpa hätte sie in die Arme genommen, sie getröstet und gesagt: ›Komm, Kind, beruhige dich!‹ Und sein Leben und ihr Leben hätten eine andere Wendung genommen. Aber nein, sie hat nie den Mut dazu aufgebracht. Grandpa hat nächtelang nicht geschlafen, in Erwartung, dass sie es sagte. In solchen Nächten, in jeder von ihnen, hat er es wieder und wieder gehofft. Aber nein, nichts kam. Immer wieder nur die gleiche Lüge. Und darunter litt er am meisten, dass sie ihm nicht die Wahrheit sagte. Und als eine bestimmte Zeit überschritten war, komisch, da war es nicht mehr wichtig, ob sie es sagte oder nicht. Da hat er einfach aufgehört zu warten, und sie ist fortgegangen. Endgültig.«
Ich dachte, was sollte Miranda auch anfangen, mit ihrem geteilten, vielfach zerstückelten Leben? Ein Leben, das vertrieben und vernichtet war. Ich hätte Viviane gerne gefragt: »Wie ist Lavinia denn gestorben? Und warum trägt Miranda die Schuld?« Aber ich wollte ihr nicht zu nahetreten.
»Sie hat ja auch Schweres durchgemacht«, sagte ich unbestimmt. »Aber du hast immer gesagt, dein Grandpa wollte nicht, dass du darüber redest.«
Sie bewegte den Kopf hin und her, als ob sie unschlüssig sei. Oder auch nur müde, tatsächlich erstickte sie ein Gähnen.
»Jetzt spielt das keine Rolle mehr. Er ist bei Lavinia, und es ist ihm gleich.«
»Was ist ihm gleich?«
Sie antwortete mit einer gewissen Ungeduld.
»Kapierst du eigentlich nie, dass die Toten zu mir sprechen?«
»Das weiß ich ja«, gab ich beschwichtigend zur Antwort. »Und was sagt jetzt dein Grandpa?«
Viviane legte behutsam ihr Besteck auf den Teller, tupfte sich mit der Serviette den Mund ab.
»Er sagt, dass ich die Geschichte erzählen kann.«
30. Kapitel
E s war im September 1987«, sagte Viviane, »vier Tage vor Schulanfang. Willbur war schon in London, Lavinia würde mit Miranda nachkommen. Am Morgen der Abreise kam Miranda spät zum Frühstück. Sie sah blass und mitgenommen aus. Lavinia fragte, ob sie sich nicht wohl fühlte. Ach, es sei spät geworden, sagte Miranda, sie hatte ein Glas zu viel getrunken und nicht genug geschlafen. Lavinia wusste, dass sie die Nacht auswärts verbracht hatte, stellte aber keine Fragen. Lavinia erlaubte ihrer Tochter fast alles, das war unbedingt ein Fehler von ihr. Miranda durfte rauchen und trinken; Lavinia hatte ihr auch erklärt, wie man Verhütungsmittel benutzt. Dass Lavinia sich so nachsichtig zeigte, hatte seinen Grund: Miranda war zur Welt gekommen, als die Söhne bereits das College besuchten. Miranda hatte Irwin und Robert, die sie herumtrugen und mit ihr spielten, abgöttisch geliebt. Sie war neun, als Irwin und Robert nach Rhodesien gingen, und war eine Zeit lang traurig. Sie vermisste das Fröhliche der beiden jungen Männer, ihren bisweilen skurrilen Humor. Sie war überglücklich, wenn die Brüder zwei- oder dreimal im Jahr zu Besuch kamen. Irwin hatte eine Australierin geheiratet und Robert eine bildschöne Indonesierin. Eine schwarze Nanny kümmerte sich um die drei Kleinkinder. Kam die Familie zusammen, herrschte ein sehr freier Ton. Es wurde auch viel über Politik geredet. Sogar beim Abendessen war das Thema kein Tabu, obgleich Lavinia meinte, dass Politisieren nicht gut für die Verdauung sei. Die Eltern waren ›Peers‹ und
dementsprechend konservativ, die Brüder zog es mehr zu Labour hin. Die Unterhaltung war oft sehr anspruchsvoll, denn die Familie war sehr gebildet. Miranda war stets dabei, eine verschmitzte, gescheite Halbwüchsige, die mitreden konnte, weil sie Übung hatte. Sie beherrschte schon die Schlagfertigkeit ihrer Brüder, hatte zu allem eine Meinung, manchmal sogar eine
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