Mondtaenzerin
verhungern.«
»War es schwierig für dich?«
»Du willst wissen, wie oft mir der kalte Schweiß ausbrach?« Er lachte leise. Seine Stimme war ganz anders als früher, mühelos gedämpft, ohne Modulation. Eine heimliche Stimme.
»Man lernt schnell, dass es keinen Zweck hat, vor Angst zu schwitzen. Ob ich Angst zu haben hatte oder nicht, ob es mir gefiel oder nicht, wurde von denen entschieden, die stärker waren. In Afrika gibt es ein Sprichwort: ›Küsse die Hand, die du nicht abhacken kannst.‹ Brutal, aber zutreffend. Erfahrung macht vorsichtig. Es ist wie ein sechster Sinn, der in Extremsituationen in uns zum Vorschein kommt. Selbsterhaltungstrieb. Als ich in Afrika genug Hände geküsst hatte, machte ich mich auf den Weg in die Vereinigten Staaten. Man hatte mir gesagt, nach fünf Jahren in Amerika hast du Geld, und nach
weiteren fünf Jahren bist du reich und man gibt dir die Green Card umsonst. Das jedenfalls hat man mir gesagt. Ich fand einen chinesischen Frachter, der eine Ladung Holz nach Mexiko brachte. Illegal gefällte Bäume natürlich, und mitten im Naturschutzgebiet. Ich dachte, Mexiko liegt neben den Vereinigten Staaten, man muss nur über die Grenze. Ich hatte natürlich keine Ahnung, dass man sich beiderseits der Grenze wie ein Kaninchen vorkommt, dass man heckt und springt, während die Kugeln fliegen. Inzwischen half ich dem chinesischen Koch, putzte Gemüse, hackte Hühner in akkurate Würfel. Mischt man das Fleisch mit Curry, merkt keiner, dass es nicht frisch ist. Ich kann dir heute ein chinesisches Festmenü auf den Tisch stellen. Na gut, ich ging in Mexiko an Land, und irgendwann auf dem Weg zur Grenze stieß ich auf Leute, die sich gerne meine Lebensgeschichte anhörten. Bei diesen Leuten merkst du bald, ob du willkommen bist oder nicht. Wenn nicht, sorgen sie dafür, dass du nicht lange bleibst. Nach und nach lernte ich sie besser kennen. Sie leben in Clans, wobei viele verschwägert oder verwandt sind. Jede Sippe hat besondere Kennworte und eine eigene Zeichensprache. Es kommt oft vor, dass die Clans aufeinander losballern – aufgrund irgendwelcher Rivalitäten –, und dann fließt Blut. Aber das gehört dazu. Ansonsten helfen sie sich gegenseitig und lügen sich nie an. Lügner werden bei ihnen nicht alt. Wer einer dieser Sippen beitreten will, muss sich absurden Mutproben unterziehen. Aber dann ersetzt der Clan die Familie, und alles wird gut. Diese Leute sind fromm auf ihre Art, fallen vor dem Jesusbild auf die Knie, tragen eine Medaille mit der Muttergottes um den Hals und bekreuzigen sich, sobald ihnen eine Nonne über den Weg läuft. Das alles kam mir nicht fremd vor. Und da ich keine Vorzugsbehandlung erwartete und nichts gegen besondere Arbeiten hatte, verschaffte ich mir Respekt. Außerdem konnte ich lesen und schreiben, was sich gelegentlich als nützlich erwies.«
Er trank, sah mich über den Rand seines Glases an.
»Willst du mehr wissen? Ich werde es dir sagen.«
Er war mir vertraut, doch mir war inzwischen klargeworden, dass mit dieser Vertrautheit etwas nicht stimmte. Er wusste wohl zu schweigen, wo kein Vorteil weder für ihn noch für mich darin lag, gewisse Dinge klarzustellen. Er sah mich dabei ruhig an, ohne auszusprechen, was vielleicht unaussprechlich war.
»Sag nichts«, flüsterte ich rau. »Ich brauche keine Auskünfte über dich.«
Er bewegte vage die Hand.
»Wie du willst.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich will nichts wissen. Auch nicht, ob du irgendwo Frau und Kinder hast.«
Er zupfte leicht an seinem Ohrring.
»Ich habe keine Frau, zu diesem Zeitpunkt jedenfalls nicht. Kinder? Zwei oder drei, glaube ich, die vielleicht schon laufen können.«
Ich fragte verwundert:
»Kennst du deine eigenen Kinder denn nicht?«
Da schmunzelte er.
»Was hat der Mann zu sagen? Die Mutter trägt das Kind und bestimmt, ob es aufwachsen soll oder nicht. Dort, wo ich war, gehören die Kinder der Mutter.«
»Wenn auf die Väter ja kein Verlass ist…«
Er brach in Lachen aus, rollte den Kopf hin und her.
»Da magst du schon recht haben.«
Ich lachte auch, aber nicht wirklich von Herzen. Dann wurde sein Gesicht wieder ernst.
»Was ich dir aber sagen muss, ist, dass ich hier einiges riskiere.«
»Keiner wird dir Fragen stellen. Jeder weiß doch, wie ungerecht du behandelt wurdest.«
Es schüttelte den Kopf.
»Nein. Ich rede nicht von dem, was früher war, sondern von dem, was heute ist. Ich bin hier, weil meine Brüder mir Geld schulden. Und es ist
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